VorWeg #4: … und das Ziel ist das Heil

Eine Wallfahrt ist natürlich nicht reiner Selbstzweck, sondern es geht um das höchste Gut des mittelalterlichen Menschen: Sein Seelenheil. Ohne Seelenheil, also eine „gesunde“, sündenfreie Seele, kann der Mensch nach seinem Tod nicht in den Himmel kommen. Es ist also sinnvoll, bereits zu Lebzeiten für das Heil seiner Seele vorzusorgen und dafür werden im Verlauf des Mittelalters zahlreiche Strategien entwickelt.[1] Eine davon ist die Unterstützung der Heiligen, die man beispielsweise auf Pilger- und Wallfahrten für sich erwerben konnte – so auch in Nikolausberg. In diesem VorWeg-Post möchten wir euch gerne zeigen, wie die Wallfahrt nach Nikolausberg aussah, woher die Pilger kamen, und was sie dabei tatsächlich für ihre Seele gewinnen konnten. Das erklärt, warum auch Anneke und Lukas Vos gerade Nikolausberg als Ziel für ihre Reise ausgewählt haben.

Die Kirche und das Kloster

Nikolausberg, damals noch Ulrideshusen oder Olrikeshusen, ist heute ein malerisches kleines Dorf auf einem Berg nördlich von Göttingen in Südniedersachsen. Hier wurde um die Mitte des 12. Jahrhunderts ein Augustinerinnenkloster gegründet. Dieses Kloster besaß Reliquien des heiligen Nikolaus von Myra. Auch nachdem das Kloster bald nach der Gründung an einen neuen Standort übersiedelte, nämlich nach Göttingen-Weende, blieb die Kirche in Nikolausberg erhalten und auch die Reliquien des heiligen Nikolaus verblieben dort und gehörten weiterhin zum Kloster. Um die Mitte des 14. Jahrhunderts entwickelte sich hier eine regelrechte Kultstätte für den heiligen Nikolaus und eine Wallfahrt von überregionalem Ausmaß entstand.[2]

Der heilige Nikolaus – Beschützer der Gefangenen

Heute kennen ihn die meisten als den „kleinen Bruder“ vom Weihnachtsmann (man vergleiche den englischen Namen Santa Claus!), damals war er Patron der Seefahrer und Schutzheiliger der Gefangenen: der heilige Nikolaus von Myra. Gesicherte Nachrichten über Nikolaus‘ Leben und Wirken gibt es nicht. Das meiste ist in Form von Legenden überliefert, wobei nicht ausgeschlossen werden kann, dass möglicherweise mehrere historische Personen in der legendarischen Person des Nikolaus zusammenflossen. Diese Legenden prägen auch die mittelalterliche Vorstellung von Nikolaus und sind Grundlage des Kults in Nikolausberg.

Nikolaus (*um 283) wirkte zunächst als Priester, später als Bischof in Myra in der heutigen Türkei. Verschiedene Legendentraditionen ranken sich um seine Person: So soll er einigen Frauen in seiner Gemeinde geholfen haben, indem er ihnen Geld durchs Fenster oder durch den Kamin zukommen ließ – die Grundlage für die heutige Vorstellung vom heiligen Nikolaus, der den Kindern am Nikolaustag Geschenke bringt. Als Bischof soll er drei zu Unrecht festgesetzte Feldherren befreit haben, indem er dem Kaiser im Traum erschien und ihm auftrug, seine Gefangenen ziehen zu lassen. Ebenso soll er drei schiffbrüchigen Pilgern zu Hilfe gekommen sein. Wie viele frühe Christen wäre auch Nikolaus beinahe der Christenverfolgung zum Opfer gefallen. Er wurde zwar gefangen und gefoltert, überlebte jedoch und starb erst um 348. Noch heute kann man im von Coca Cola geprägten Outfit des Weihnachtsmanns den ursprünglichen Nikolaus erkennen: Der lange Mantel und die zur Zipfelmütze erschlaffte Mitra erinnern noch an die bischöfliche Kleidung.

Die Verehrung des Nikolaus als Heiligem setzt im 6. Jahrhundert ein und erreichte Westeuropa im Hochmittelalter.[3] In Nikolausberg wurde er vor allem als Schutzpatron der Gefangenen verehrt: Das belegen zahlreiche Ketten und Fesseln, die sich im 15. Jahrhundert in der Kirche fanden. Solche sogenannten Votivgaben wurden von ehemaligen Gefangenen, die für ihre Befreiung eine Wallfahrt nach Nikolausberg gelobt hatten, als Zeichen ihrer Dankbarkeit in der Kirche niedergelegt.[4]

Wie aus Ulrideshusen Nikolausberg wurde: Ablass und Wallfahrt

Das Kloster muss die Reliquien[5] des heiligen Nikolaus bereits sehr früh in seiner Geschichte erhalten haben. Sie verblieben in Ulrideshusen, als der Konvent nach Weende umzog.

1261 gewährte Papst Alexander IV. einen ersten Ablass für Nikolausberg, also einen Erlass der Sündenstrafe um eine gewisse Zeitspanne. Dieser Ablass galt für den Nikolaustag am 6. Dezember und die folgende Woche, die Oktav, und umfasste 40 Tage.[6]

Eine richtige Wallfahrt setzte aber wohl erst gut 100 Jahre später ein, um die Mitte des 14. Jahrhunderts. In diese Zeit datiert die Gründungslegende des Klosters, die beschreibt, wie das Kloster auf den letzten Wunsch eines auf dem Weg sterbenden Pilgers hin in Ulrideshusen errichtet und mit den Reliquien des Nikolaus ausgestattet wurde. Bereits während des Klosterbaus sollen sich erste Wunder ereignet haben, die auch danach nicht abrissen.[7] Zwar behauptet der Gründungsbericht, dass es schon seit dem 11. (!) Jahrhundert eine rege Wallfahrt nach Nikolausberg gegeben habe, aber solche „Rückdatierungen“ sind im Mittelalter eine beliebte Strategie, um einem neuen Kult künstlich ein bisschen mehr Tradition und damit Legitimation zu verleihen. Vermutlich entstand erst zu dieser Zeit eine richtige Wallfahrt, die das Kloster mit der Legende zusätzlich fördern wollte, denn eine Wallfahrt brachte ja auch Ansehen und Einnahmen mit sich – „gewusst, wie“ eben!

Eine weitere Strategie, die Wallfahrt attraktiv zu machen, war, den Ablass zu erhöhen, und hierauf verstand man sich in Nikolausberg sehr gut. 1387 verliehen der Erzbischof von Magdeburg und der Hildesheimer Bischof jedem, der an einem von 35 ausgewählten Festtagen, in deren Oktav oder an einem Sonntag nach Nikolausberg kam und dort den Heiligen verehrte, 40 Tage Ablass. Rechnen wir das einmal hoch, dann war es fast unmöglich, keinen Ablasstag zu treffen. Umso besser für unsere beiden Pilger, Anneke und Lukas Vos! Auch dieser Ablass ist also im Zusammenhang der beginnenden Wallfahrt zu sehen.

Wie verhält sich die Nikolausberger Wallfahrt aber zu anderen Pilgerzielen dieser Zeit? Mit den drei großen Pilgerzielen Jerusalem, Rom und Santiago de Compostela konnte sie sicher nicht mithalten, und auch im Deutschen Reich gab es mit Einsiedeln oder Wilsnack sehr viel bedeutendere Wallfahrten, die auch sehr viel mehr Ablass boten. Neben diesen großen Wallfahrtszielen entwickelte sich im späten Mittelalter aber auch ein immer engmaschigeres Netz von sogenannten Nahwallfahrtsorten. Auch die erfreuten sich großer Beliebtheit, denn im Gegensatz zu einer Fernreise konnten sich auch die „kleinen Leute“ eher mal eine Pilgerreise zu einem nahen Wallfahrtsort leisten.

Unser Nachguss des erhaltenen Pilgerzeichens

Hier spielt Nikolausberg gewissermaßen eine Zwischenrolle: es war ein „Wallfahrtsort mit deutlich überregionaler Anziehungskraft, aber doch nicht das Ziel einer Fernwallfahrt“.[8] Das wird deutlich, wenn man sich einmal anschaut, woher die Wallfahrer denn kamen. Den schriftlichen Quellen zufolge kamen sie aus Münden, Winzenburg, Kochstedt, Kassel, Calenberg, Lübeck, weitere vermutlich aus Einbeck, Northeim, Meißen und Schlesien. Ein deutlicher Schwerpunkt lag also auf dem mitteldeutschen Bereich zwischen Südniedersachsen, Hessen, Nordthüringen und Sachsen.[9] Hildesheim, von wo Anneke und Lukas lospilgern, fällt ebenfalls genau in dieses Einzugsgebiet (mehr zu unserem Streckenverlauf).

Neben diesen regionalen Wallfahrten, die oft nur wenige Tagesreisen in Anspruch nahmen, gab es aber auch Pilger aus weiter entfernten Regionen. Dabei war Nikolausberg aber vermutlich eher ein Durchreisepunkt zu einem entfernteren Wallfahrtsort denn eigentliches Ziel: So legte der Lübecker Johann Nywold 1414 testamentarisch fest, dass in seinem Auftrag ein Pilger nach Thann und Einsiedeln reisen und auf dem Weg dorthin auch in Nikolausberg Halt machen sollte.[10] Nikolausberg war dann sogenannter Transitwallfahrtsort.

Das Einzugsgebiet wird noch einmal deutlich, wenn wir uns die Verbreitung der Nikolausberger Pilgerzeichen ansehen. Zwar ist nur eines der empfindlichen Zinn-Blei-Zeichen im Original überliefert, es findet sich aber auch als Abguss auf zahlreichen Glocken. Die Verteilung der rund 100 überlieferten Pilgerzeichen seht ihr in der Karte. Übrigens war Nikolausberg im 14. Jahrhundert einer von nur sechs Wallfahrtsorten östlich des Rheins, die überhaupt Pilgerzeichen hatten![11]

Verteilung der Pilgerzeichenfunde und Glockenabgüsse des Nikolausberger Zeichens aus der Datenbank von Kunera

Wallfahrten waren aber nicht nur immer fromme Unterfangen: Wo viele Menschen zusammenkommen – und das war in Nikolausberg ganz offensichtlich der Fall – entsteht auch immer Handel und wird auch immer gefeiert. Zu Wallfahrtstagen wurde in Nikolausberg Einbecker Bier ausgeschenkt. Dabei wurde auch durchaus mal über den Durst getrunken; Streitereien und Handgreiflichkeiten blieben dabei nicht aus, wie von anderen Wallfahrtsorten belegt! Händler schlugen auf dem Kirchhof ihre Stände auf und verkauften den Pilgern fromme Bildchen und Devotionalien. Das Kloster sah das gar nicht gerne, denn es würde die Andacht stören, und bat 1434 um Unterstützung in dieser Sache.[12]

Wir sehen also, dass die Wallfahrt nach Ulrideshusen gerade im späten Mittelalter beliebt war und bald auch überregionale Pilger anzog. Anfangs noch vom Konvent selbst befördert, verselbstständigte sich die Wallfahrt bald mit Handel und Bier, sodass das Kloster eingreifen musste. Der Kult um den heiligen Nikolaus war dabei so wichtig, dass er sogar eine Namensänderung des Ortes bewirkte: Ulrideshusen wurde im 15. Jahrhundert zunächst zu sinte Nicolawes berche to Olrikeshusen und schließlich zu Nicolaes berge.[13]

Noch immer vorhanden: Zeugnisse der Wallfahrt

Obwohl die Nikolausreliquien 1542 in der Reformation entfernt wurden, finden sich auch heute in der mittelalterlichen Kirche noch zahlreiche Zeugnisse des Heiligenkults und der Wallfahrt. Die meisten von ihnen stehen noch immer an ihrem originalen Aufstellungsort, sodass die Kirche einen guten Eindruck davon gibt, welches Bild einen mittelalterlichen Wallfahrer und damit auch Lukas und Anneke in Nikolausberg erwartet hätte.

Der Nikolausberger Chor mit dem Hochaltarretabel

Darunter fällt eine Holzstatue des heiligen Nikolaus aus der Zeit um 1300, die damals möglicherweise auch Reliquien enthielt. Zwei Altarretabel sind auch noch vorhanden, wobei der Hochaltar im Chor wohl ebenfalls Nikolausreliquien enthalten hat. Der Chor wurde vor 1400 so umgebaut, dass die Pilger den Altar umschreiten und von allen Seiten bewundern konnten. Auf seiner Rückseite sieht man noch heute die Reste eines heiligen Nikolaus mit Mitra aufgemalt. Für diesen Altar stickten die Weender Nonnen einen Altarbehang, der das Leben des heiligen Nikolaus darstellt. Graffiti und Namenskritzeleien, die sich noch heute an den Wänden und am Altar finden, könnten ebenfalls von Pilgern stammen. Sie belegen: “Ich war hier”. Die einzigen sicher datierbaren Graffiti stammen aber aus der Zeit nach der Reformation, sind also vielleicht eher schmierenden Ausflüglern als tatsächlichen Pilgern zuzuschreiben.

All das werden wir euch natürlich auch in unserem Reisetagebuch zeigen!

Fazit: Nikolausberg – eine ‚vergessene‘ Wallfahrt?

Obwohl die Wallfahrt mit der Reformation endete, war Nikolausberg auch danach noch immer eine Reise wert, statt Kultstätte wurde es nun zum sonntäglichen Ausflugsziel. Schaut man sich Nikolausberg aber heute einmal an, so möchte man kaum glauben, dass es sich hierbei um eines der beliebtesten Wallfahrtsziele Nord- und Mitteldeutschlands gehandelt hat! Erst langsam kommt die Bedeutung des Ortes wieder ins Gedächtnis: Zunächst durch wissenschaftliche Untersuchungen, vor allem von Wolfgang Petke, dann auch durch Ausstellungen, wie die große Pilgerausstellung, die 2020 in Lüneburg und Stade zu sehen ist, und auch wir wollen mit unserem Pilgerprojekt dazu beitragen, Nikolausberg wieder ein bisschen ins Gedächtnis zu rufen.

Wer nun also angefixt ist: Die Nikolausberger Kirche ist als Pilgerkirche in den Sommermonaten tagsüber geöffnet und kann besucht werden. Ab Oktober sind einige Objekte aus Nikolausberg, darunter die Statue und die Pilgerzeichen, in der Doppelausstellung in Stade zu sehen. Und wem beides zu weit ist, dem empfehlen wir dringendst, uns als „Pilger im Geiste“ auf unserer Tour zu begleiten (mehr dazu im nächsten Post)! Es gibt noch vieles zu entdecken – auf dem Weg und in Nikolausberg!

Nachträgliche Ergänzung:
Mittlerweile ist die Pilgerreise vorrüber und wir waren sicher und wohlbehalten in Nikolausberg angekommen. Hier berichten wir euch von unserer Ankunft und geben euch noch viele weitere Einblicke in die Zeugnisse der Wallfahrt. Außerdem sprachen wir mit den Vertretern der Gemeinde über die Tradition der Kinderbischöfe und nehmen euch virtuell mit auf einen Gang durch den Chor der Kirche, wie ihn auch ein mittelalterlicher Pilger erlebt haben könnte.


[1] Hier möchte ich gerne dazu sagen, dass diese Erklärung sehr vereinfacht ist. Die mittelalterliche Frömmigkeit, das Sünden-, Reue- und Bußsystem, und auch die Vorstellung von jenseitiger Gnade und Buße sind sehr viel komplexer als hier kurz zusammenfassend dargestellt – und gerade für uns moderne Menschen, in deren Leben Religion und Glaube eine sehr viel geringere Rolle spielen, oft nur sehr schwer zu begreifen. Diese Hintergründe zu verstehen, ist essentiell, um das mittelalterliche Bedürfnis nach Absicherung des Seelenheils zu begreifen. Das soll aber nicht Thema dieses Blogposts sein.

[2] Hildegard Krösche, Weende, in: Nds. Klosterbuch 3, hg. von Josef Dolle u.a., Bielefeld 2012, S. 1498-1505.

[3] Zum heiligen Nikolaus und der Verbreitung des Kults vgl. https://www.heiligenlexikon.de/BiographienN/Nikolaus_von_Myra.htm

[4] Die Wallfahrt auf den Nikolausberg bei Göttingen, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 114 (2016), S. 101-134, S. 102.

[5] Der Reliquienkult basiert auf der Vorstellung, dass den sterblichen Überresten eines Heiligen oder Gegenständen aus seinem Besitz noch ein Teil seiner heiligen Kräfte innewohnt. Solche Reliquien fanden sich in jeder mittelalterlichen Kirche und werden noch heute in jeder katholischen Kirche bewahrt. Woraus genau die Nikolausberger Reliquien bestanden, ist ungewiss, aber legt die spätere Gründungslegende nahe, dass es sich um Knochen handelte. Mehr zum mittelalterlichen Reliquienkult in unseren Experteninterviews, die wir auf der Pilgerreise führen werden.

[6] Petke, a.a.O., S. 108.

[7] Petke, a.a.O., S. 106.

[8] Petke, a.a.O., S. 121.

[9] Petke, a.a.O., S. 121.

[10] Petke, a.a.O., S. 118.

[11] Petke, a.a.O., S. 123.

[12] Petke, a.a.O., S. 112-113.

[13] Petke, a.a.O., S. 126.

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