Das Gepäck des Pilgers

Eine Frage, die uns vor und während unserer Reise sehr beschäftigt hat, war, wie der mittelalterliche Pilger denn eigentlich sein Gepäck transportierte. Gar keine schlechte Frage, denn schließlich hatten wir die ganzen Sachen 100km zu tragen, und da hat man es gerne möglichst leicht, bequem und praktikabel.

Was ein mittelalterlicher Pilger an Ausstattung dabei hatte und was wir auf unsere Reise mitgenommen haben, haben wir euch bereits in VorWeg#2 berichtet. Nun halten sich die Quellen leider sehr bedeckt dazu, was ein Pilger im Einzelnen auf seine Reise mitnehmen sollte: Hut, Mantel, Stab, Tasche, Essgeschirr und ein zweites Paar Schuhe werden explizit genannt, sie sind also unabdingbar.[1] Aber wo ließ man alle diese Sachen? Sicher, vieles trägt man am Körper, einiges in der Tasche – aber was macht man mit dem zweiten Paar Schuhe? Wo lässt man das Essgeschirr? Wohin mit dem Mantel, wenn es warm ist? Und für uns noch viel wichtiger: Was passiert mit dem ganzen weiteren Kleinkram, der in den Quellen nicht genannt wird, den wir (und vieles davon auch der mittelalterliche Mensch) aber trotzdem mitnehmen müssen?

Zugegeben: Die eine Antwort gibt es nicht. Aber wir haben verschiedene Möglichkeiten und Varianten auf unserer Reise für euch ausgetestet. Die wollen wir euch in diesem Blogpost gerne vorstellen. Und natürlich diskutieren wir auch für euch, was die Quellen dazu sagen und wie praktikabel diese Lösungen tatsächlich sind.

1) Tasche
Die ausführlichste Beschreibung der Pilgertasche findet sich im Codex Calixtinus, einer Handschrift über die Jakobspilgerschaft, aus dem 12. Jahrhundert.[2] Dort heißt es, die Tasche solle aus Tierhaut sein, denn das versinnbildlicht die Abtötung des eigenen Fleisches (im übertragenen Sinne!), mit enger Öffnung, sodass nur ein kleiner Vorrat an Proviant hineinpasst, aber nicht zugebunden, um immer freigiebig zu sein. Ihr seht, die Tasche selbst soll Symbol der beschwerlichen und von Verzicht geprägten Reise sein.

Es gibt verschiedene regionale Bezeichnungen der Pilgertasche, die pera, die sporta, die scarsella oder isquirpa oder den Wallsack, auch die Bildquellen vermitteln unterschiedliche Formen. Oben schmal zulaufende, etwas trapezförmige Beutel, wie im Codex Calixtinus beschrieben, aber auch eher rechteckige oder halbmondförmige Taschen, sowohl aus Leder als auch aus Textil sind belegt (während es ursprünglich geflochtene Binsen waren, ist später eher Leinen denkbar).

Wir hatten zwei verschiedene Taschenformen dabei: eine Leinentasche mit trapezförmigen Schnitt und eine runde Ledertasche. Auch wir haben darin hauptsächlich den Proviant transportiert, aber auch unser Erste-Hilfe-Kit und die Technik, die wir brauchten, um für euch unsere Reise zu dokumentieren. Mai-Britt hatte auch ihr zweites Paar Schuhe in der Tasche.

Wenn die Tasche auf der Schulter zu schwer wird, und das passiert bei der einseitigen Belastung recht schnell, kann es helfen, den Schulterriemen mit unter den Gürtel zu legen. Die Schulter wird so etwas entlastet und ein Teil des Gewichts auf die Taille gelegt. Zu weiteren Tragevarianten siehe unten.

Fazit: Die Tasche ist eines der zentralen Pilger-Items schlechthin und kann vielfältige Formen aufweisen. Sie bietet viel Platz, alles kriegt man hierin aber definitiv nicht unter.

2) Gürtel
Eine weitere Möglichkeit ist, einen Teil des Gepäcks auf den Gürtel zu verlegen. Gürtel waren, anders als heute, im Mittelalter nicht dazu da, die Hose an Ort und Stelle zu halten, sondern um die Kleidung zu raffen und um, in Ermangelung von Hosentaschen, Taschen, Beutel und manchmal auch weitere Gegenstände daran zu befestigen.

So hielten es auch die Pilger wie man beispielsweise in dieser Abbildung gut erkennen kann. Genau wie sie haben auch wir unser Essgeschirr und Besteck am Gürtel befestigt. Philipp trug neben seiner Gürteltasche auch noch seine Flasche und ein Lederetui für unsere Visitenkarten, und Mai-Britt ein kleines Nadeletui mit Nähzeug für den Notfall. Außerdem hatten wir beide unsere Rosenkränze am Gürtel: Die werden auf den Darstellungen zwar oft abgebildet, meistens aber in der Hand der Pilger. Da das auf Dauer doch etwas un”hand”lich war, haben wir sie an den Gürtel gehängt – das kann aber auch schnell mal zu Verlusten führen, wie Philipp leider selbst feststellen musste.

Fazit: Die Gürtelvariante eignet sich vor allem für kleine leichte Gegenstände mit Aufhängung, die man schnell griffbereit haben möchte.

3) Kleidungsrolle

Ein Problem, bei dem wir selbst lange gerätselt haben, wie wir am besten damit umgehen, ist die Ersatzkleidung, denn dieses Problem wird in den Quellen nicht dokumentiert. Abgesehen von dem zweiten Paar Schuhe wird Ersatzkleidung dort überhaupt gar nicht erwähnt, ist in unseren Augen aber gerade für längere Reisen anzunehmen: Möglicherweise spricht da unser modernes Hygieneempfinden aus uns, sind wir es doch gewohnt, regelmäßig frische Kleidung und Unterwäsche anzuziehen. Aber auch für den mittelalterlichen Pilger – der übrigens auch durchaus ein Hygieneempfinden hatte! – ist Ersatzkleidung in jedem Falle sinnvoll: Sei es, falls er plötzlich von einem Unwetter überrascht und bis auf die Haut durchnässt wird oder damit er sich zwischendurch an- und abzu“zwiebeln“ kann, um sich dadurch an das aktuelle Wetter anzupassen. Für unsere dreitägige Reise hatten wir zwar einen Wechselsatz dabei, hätten ihn aber eigentlich nicht gebraucht. Doch war unser Wetter so warm, dass wir in unseren Mänteln eingegangen wären, und auch die wollten irgendwo untergebracht werden.

Da es hier an Quellen mangelt, haben wir auf einen modernen Bereich zurückgegriffen, der dem traditionellen Pilgern gar nicht so fern ist, nämlich fahrende Handwerker (man vergleiche „Wallfahrt“ und „Walz“). Auch die reisen mit äußerst geringem Gepäck und sehr begrenzter Wechselkleidung, die sie in einem kleinen Gepäckbündel namens „Charlie“ oder „Charlottenburger“ unterbringen. Der Name leitet sich ab von dem Tuch, das benutzt wird, um die Habseligkeiten darin einzuwickeln. Wir hingegen haben einfach unsere Mäntel verwendet. Alle anderen Kleidungsstücke darauf gelegt und in eine feste Wurst gerollt, waren die Klamotten sicher verpackt und gut durch den Mantelstoff geschützt. Diese Rolle wurde mit zwei Lederriemen oder Bändern verschnürt und ein weiterer Riemen als Tragegurt hindurchgezogen.

Wir brauchten ein bisschen, um die optimale Tragevariante für uns herauszufinden. Am ersten Tag trugen wir das Bündel noch schräg über den Rücken gehängt, das hat sich aber, wiederum wegen der einseitigen Belastung, als sehr unangenehm erwiesen. Sehr viel komfortabler war die Variante, das Bündel entweder waagerecht auf Schulterhöhe zu tragen oder es sich von hinten auf die Hüften zu binden. Gerade letzteres ist eigentlich sehr angenehm, weil die Rolle leicht auf dem Gesäß aufliegt und dadurch zusätzlich gestützt wird.

Fazit: Wenn auch nicht belegt, hat sich die freie Interpretation à la Charlie durchaus als praktikabel erwiesen.

4) Varianten

4.1) Tasche auf beiden Schultern
Die Pilgertasche muss nicht immer schräg über eine Schulter getragen werden, sondern bietet auch verschiedene andere Möglichkeiten. Eine davon ist, sich den Taschenriemen vorne waagerecht über die Brust zu legen und die Tasche dann im Rücken zu tragen wie hier und hier zu sehen. Hat den Vorteil, dass das Gewicht nicht dauerhaft auf einer Schulter aufliegt und sich gleichmäßiger auf den Körper verteilt. Außerdem kann man auf der Brust mehr Gewicht tragen als auf der Schulter. Das geht im Übrigen auch mit der Flasche.

Wir haben die Variante mit unseren Pilgertaschen zwar ausprobiert, aber für nicht wirklich praktikabel befunden. Vielleicht waren unsere Riemen zu lang; jedenfalls rutschte die Tasche immer nach unten. Als sehr praktisch hat sich diese Tragevariante aber für unsere Gepäckrollen erwiesen – da ist der Riemen kürzer und das Gepäck bleibt an Ort und Stelle.

Satteltasche über die Schulter

4.2) (Esels-)Gepäcktaschen
Ein weiteres Phänomen des Gepäcktransports ist ein (Leinen?)beutel der anderen Form: Es handelt sich um eine Doppelbeutel aus einem breiten Leinenstreifen, in der Mitte mit einem Loch für den Kopf und zwei aufgesetzten Taschen an jedem Ende. Wenn man den Kopf hindurchsteckt, hat man vorne vor der Brust und hinten auf dem Rücken zwei Beutel, die viel Stauraum bieten. Auch solche Beutel findet man (seltener) auf zeitgenössischen Abbildungen (bspw. hier und hier). Wir vermuten, dass es sich vielleicht um zweckentfremdete „Satteltaschen“ handelt, die einem Esel über den Rücken gelegt werden konnten – den Ausschnitt für den Kopf musste man natürlich noch ergänzen.

Satteltasche mit Loch und Kopf durch

Wir hatten die Tasche zwar dabei, haben sie aber nicht umfassend getestet, da sie zusammen mit der Gepäckrolle eher hinderlich gewesen wäre. So in etwa sieht es aber aus. Der Nachteil bei dieser Tasche ist auch zudem, dass die beiden Säcke beim Gehen anfangen zu baumeln. Wir haben zwar schon Reenactor gesehen, die links und rechts bei der Satteltasche Schnallen befestigt haben, mit denen dann Vorder- und Rücksack verbunden werden können, und somit das Baumeln verhindert wird, aber dazu haben wir noch keinen Beleg gefunden.


[1] Wohl auf Sankt Jakobs Straßen. Hymnen, Gebete, Lieder und Reim-Gedichte der Jakobuspilgerschaft, hg. v. Fränkische St. Jakobus-Gesellschaft e.V., Würzburg 2008, S. 25-28.

[2] Aus dem Codex Calixtinus (12. Jh.), Buch 1: Predigt Veneranda dies, vgl. Der Jakobsweg. Ein Pilgerführer aus dem 12. Jahrhundert, hg. v. Klaus Herbers, Stuttgart 2008, S. 21-23.

Tag 1: Hildesheim – Lamspringe

Die Route des heutigen Tages: 31,1km von Hildesheim nach Lamspringe (Unten auf der Seite gibt es eine detaillierte Ansicht auf unsere Route per Komoot)

07:20
Frau Vos verabschiedet sich noch von der Haus- und Werkstattkatze Isidorus, eh es auf den Weg geht 😊

08:00
Start am Hildesheimer Dom und Treffen mit der Reporterin Kathi Flau von der Hildesheimer Allgemeinen Zeitung (hier geht’s zur Reportage, leider mit Paywall)! Kathi wird uns auch ein Stück des Weges begleiten.
Leider ist im Dom gerade Gebetszeit, sonst hätten wir euch noch ein paar Detailfotos vom berühmten Bernwardsleuchter und den Reliquiaren mitgebracht.
Ein Reliquiar wollen wir euch trotzdem zeigen, das Reliquiar mit den Reliquien Mariens, weil es noch einmal eine spannende Form ist, wie Reliquien im Mittelalter verpackt und präsentiert werden konnten. Mehr zu Reliquien und Reliquienformen findet ihr im Experteninterview mit Julia Hartgen.

09:02
Eine wichtige Orientierungshilfe in der mittelalterlichen Stadt sind Kirchtürme – sie sind markant und überragen, noch viel mehr als heute, weithin sichtbar die Stadtkulisse.
Hier die Türme vom Hildesheimer Kloster St. Godehard, eine von 14 mittelalterlichen Kirchen und Kapellen in Hildesheim!

09:20
Wir überqueren langsam die Stadtgrenzen und der Boden wird angenehmer.

09:35
Eine weitere Zwischenstation und gleichzeitig der Ausgang vom Stadtgebiet Hildesheim ist die heutige Domäne Marienburg (nicht zu verwechseln mit der modernen welfischen Marienburg, die ebenfalls bei Hildesheim liegt!). Sie wurde Mitte des 14. Jahrhunderts vom Hildesheimer Bischof als Trutzburg errichtet und bestand also in ähnlicher Form wie sie sich heute zeigt bereits zu unserer Zeit.

Weiter geht’s! Noch genug Kilometer vor uns. Ultreia! 😉

10:10
8km gegangen. Und der August wartet uns mit wunderbarer Verpflegung am Wegesrand auf!

10:14
Und dann stellt man fest, dass man das Erste-Hilfe-Kit vergessen hat…

Philipps liebem Nachbarn, Mitglied unseres geschätzten Backup-Teams, sei Dank, dass er es uns so spontan und zuverlässig nachgeliefert hat! Zumindest die Blasenpflaster haben wir gut gebrauchen können zu einem späteren Moment.

12:00
13km geschafft – erst mal Frühstück! Es ist wahrscheinlich, dass der mittelalterliche Pilger immer ein wenig Proviant mit sich führt. Das ist bei uns ein bisschen Brot und Käse, eingewickelt in Leinentücher, Möhren und Äpfel. Gerade Obst bekommen wir jetzt im Spätsommer aber auch regelmäßig von den Bäumen geliefert.

Erste Erkenntnis des Tages: Straßen sind staubig (“Ich stelle fest, ich habe Staub in den Falten von meinen Knien” 😆)

13:18
Und die erste interessante Begegnung hatten wir auch schon!
Ein über 80 Jahre alter Herr drehte mit seinem Roller um, der gerade auf dem Weg zu einer Ruine einer Motte war, und erzählte uns u.a. von seinem Jahr in Indien, als er dort zahlreiche Pilger und heilige Männer traf. Heute tourt er täglich durch halb Norddeutschland und besucht Freunde und interessante Orte.
Wer wandern geht, kann was erzählen – sowohl er als auch wir 😄
Viele weitere solcher Begegnungen werden übrigens noch folgen!

14:33
Die Wege werden schwieriger…

15:10
… und schwieriger!
Der Pilgerstab ist bei solchen Steigungen (und vielen anderen Unwegsamkeiten) übrigens eine enorme Hilfe. Mehr zur Verwendung des Pilgerstabs findet ihr hier. [Beitrag ist in Vorbereitung]

15:55
Eine kurze Pause, um die Wasserflaschen wieder aufzufüllen. Da es keine öffentlichen Trinkwasserbrunnen gibt, sprechen wir Anwohner an. Sie sind alle sehr hilfsbereit!

Hier gibt es auch erste Verluste zu beklagen! Philipps Rosenkranz nach einem Original im Museum Hameln ist gerissen. Leider sind auch die meisten Perlen weg, darunter die drei geschnitzten Gagat-Perlen in Muschelform 😕 
Aber er nimmt es mit Humor – call me Captain Jack Sparrow!

16:30
Wir erreichen Bodenburg mit Schloss Bodenburg, das auf eine mittelalterliche Wasserburg zurückgeht. Hier herrschten ab dem 14. Jahrhundert die Grafen von Steinberg, Ministerialen des Hildesheimer Bischofs. Im 16. Jahrhundert wurde die Burg zum Schloss umgebaut.

Da das Schloss sehr zugewachsen und kaum zu sehen ist, genießen wir die Aussicht.

Ab 17:00
Gegen 17 Uhr verwandelten sich die Wege in… naja, wie soll man es beschrieben? Ein Bach, der zu einer Harvester-Fahrbahn wurde, und dann zuwucherte? Danke Komoot für diese spannende Route! 😶
Mehr Infos zur Streckenführung gibt es hier.

17:15
15 Minuten später wird der Weg wieder zu etwas, was die Bezeichnung verdient. Die Freude war groß (auch wenn die beginnende Erschöpfung die Mundwinkel leicht nach unten fixierten)

17:30
Der erste Verlust auf Mai-Britts Seite: Ihr reißt der Tragegurt von ihrem Kleidungsbündel. Möglicherweise war das alte Hanfseil doch schon etwas spröde. Zum Glück haben wir noch einen Gürtel dabei, den sie nun als Trageriemen verwenden kann. Der ist sogar viel bequemer! Zu den unterschiedlichen Trageweisen des Gepäcks erfahrt ihr hier mehr [Beitrag folgt].

17:45
Und noch einmal eine halbe Stunde später: Zivilisation! Das muss Lamspringe sein!
Und der Fuchs führte Herrn und Frau Vos ans Ziel! Sind Füchse etwa doch Rudeltiere?

18:15
Ziel erreicht! Lamspringe! Ja, Philipp ist “etwas” kaputt und muss erst einmal akklimatisieren. Ihr seht: Sein Wams bekommt die ersten Löcher, und um seine Hose ist es auch nicht besser bestellt…

18:30
Dass wir Lamspringe als Tagesziel ausgesucht haben, kommt nicht von ungefähr, sondern hat einen guten Grund. Hier gab es im Mittelalter ein großes Benediktinerinnenkloster und Klöster bildeten im Mittelalter immer eine gute Unterkunftsmöglichkeit. Sie unterhielten häufig Spitäler (nicht im Sinne von Krankenhaus, sondern im Sinne von Gästehaus) und hier konnten auch Pilger unterkommen. Die Gemeinde Lamspringe unterhält auch heute noch eine Pilgerunterkunft, die war Coronabedingt aber leider noch nicht wieder geöffnet, deswegen haben wir diese Nacht bei Freunden verbracht.

Aber Lamspringe ist auch in anderer Hinsicht interessant, denn es hatte im Mittelalter ein großes Skriptorium – und ja, hier schrieben auch die Frauen! – und hat auch heute noch eine Wallfahrt, nämlich zum heiligen Oliver Plunkett. Dazu mehr im Video!

19:00
Auch essen muss der Pilger! Neben dem Proviant, das er dabeihat, ist auch eine richtige Mahlzeit wichtig. Die hätte er normalerweise im Gasthaus oder in der Pilgerunterkunft bekommen. Sie sah aber mit Sicherheit etwas anders aus als unser Abendessen…

Für die Imbiss-Mitarbeiter waren wir vielleicht sogar ein noch größeres Highlight als deren Essen für uns. Sie waren hellauf begeistert, sehr, sehr interessiert und haben jetzt ein Foto von uns mit ihrer Pizza auf dem Bildschirm in ihrem Laden 😀

19:45
Wir erreichen unsere heutige Unterkunft bei Familie Schmidt, die uns freundlicherweise beherbergt. Hier gibt es Dusche, Bett, ein Bier und Hund und auch eine erste Blasenbilanz. Ausbeute: zwei fiese Blasen an Mai-Britts rechtem Fuß. Zum Glück haben wir ja nun, dank nachgelieferter Erste-Hilfe-Tasche, auch Blasenpflaster dabei.

Bilanz des Tages
Die Bilanz des ersten Tages! Was haben wir geschafft, was ist passiert, was fiel uns auf, welche Verluste haben wir zu beklagen und was wollen wir morgen ändern? Das erfahrt ihr im Video!


Für alle, die neugierig auf die genauere Streckeführung sind, mehr Statistik möchten oder nachwandern:

Tag 2: Lamspringe – Wiebrechtshausen

Die Route des heutigen Tages, inklusive Höhenprofil (Unten auf der Seite gibt es eine detaillierte Ansicht auf unsere Route per Komoot)

08:00
Aufbruch bei Familie Schmidt und schon wieder auf dem Weg!

08:30
Durch diese hohle Gasse muss er gehen!
Und wieder wird ein Wanderweg bald zu einem Brennnesselfeld.

10:30
Wir erreichen das Kloster Brunshausen, kurz vor Bad Gandersheim.
Dieses ehemalige Benediktinerinnenkloster ist heute das Museum Portal zur Geschichte – Sammlung Frauenstift Gandersheim. Hier treffen wir auch Julia Hartgen, die Leiterin des Museums und sprechen mit ihr in unserem ersten Experteninterview über die Reliquienverehrung im Mittelalter.

12:00
In Bad Gandersheim besuchen wir auch noch die zweite Station des Museums, die Stiftskirche Bad Gandersheim. Der monumentale Bau stammt aus dem 9./10. Jahrhundert und wird noch heute als Kirche genutzt. Neben den originalen Kunst- und Ausstattungsgegenständen im Kirchenraum wie dem großen Hauptaltar, das Grabmal des sächsischen Stiftsgründers Liudolf oder dem steinernen Zentaur, gibt es im Westwerk auch weitere Ausstellungsräume. Hier sind unter anderem das Heilig-Blut-Reliquiar und der Archivschrank ausgestellt, die Julia Hartgen auch in ihrem Interview erwähnt.

13:40
Danach ging es über Stock und Stein, naja, über Wiesen, weiter. Sogar mit einem kleinen Zufallsfund, der sogar für unsere Verhältnisse schon alt ist.

14:20
Ein neuer Verwendungszweck von Pilgerstäben: Obstpflücker!
Äpfel werden definitiv unser Hauptnahrungsmittel auf dieser Reise!

Aber der Stab kann noch mehr. Welche Verwendungsweisen es noch gibt, lest ihr hier. [Beitrag in Vorbereitung] 😉

16:00
Über 20km geschafft!
Wie ihr merkt, blieb die Berichterstattung im Reisetagebuch heute Vormittag etwas spärlich. Das liegt nicht nur an unserem engen Zeitplan, sondern auch an dem mangelnden Internetempfang.
In Sebexen ändert sich das. Hier finden wir eine Bank, frisches Wasser – und ja: LTE. Wir nutzen also die Gelegenheit für eine Pause und ein paar nachträgliche Updates für euch.

17:20
In Kalefeld, dem letzten größeren Ort auf der Etappe stocken wir noch einmal unsere Vorräte auf. Während mittelalterliche Pilger auch von Spenden leben konnten, müssen wir auf den Supermarkt zurückgreifen. Bei diesem warmen Wetter ist ein Eis praktisch Pflicht. Schaut euch diese glücklichen Gesichter an!

Eigentlich wollten wir um diese Zeit schon in Wiebrechtshausen ankommen, aber es sind noch zwei Stunden bis zum Ziel!

18:45
Heute wird es eine späte Ankunft und langsam ist die Luft raus. Das Ziel ist Wiebrechtshausen und wir haben die Wahl im großen Bogen auf der Landstraße über Imbshausen zu gehen oder im Zick-Zack-Kurs an der Autobahn entlang über Feldwege. Wir entscheiden uns für die Feldwege – leider alles spitzer Schotter, der sich gar nicht gut mit unseren Schuhen verträgt.
Komoot verkündet, das Ziel sei nur noch einen Kilometer entfernt, aber nichts ist in Sicht. Hinter Bäumen verborgen, hinter den immer mehr werdenden Hügeln oder sind wir etwa auf dem völlig falschen Kurs? Dafür wartet uns der Weg mit Zwetschgen auf.

19:20
Plötzlich, wie aus dem Nichts, taucht das Ziel auf: Wiebrechtshausen! Nur noch 300 Meter!

19:30
Nach 34km Ankunft am heutigen Etappenziel: Klostergut Wiebrechtshausen.
Heute machen wir es wirklich wie die Pilger im Spätmittelalter und kommen im Kloster unter! Um Einlass zu bekommen, muss der mittelalterliche Pilger sich ausweisen können. Dafür führt er einen Pilgerbrief mit sich. Auch wir haben so einen Brief dabei – was darin steht, und wofür man ihn noch brauchen kann, erfahrt ihr hier.

Die Klosterkirche gehörte ursprünglich zu einem Zisterzienserinnenkloster, das hier in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts gegründet wurde. Innen ist sie eher schlicht, interessant sind aber die Kapitelle, ein Kruzifix von um 1300 und die Grablege des Welfenherzogs Otto dem Quaden.
Von der restlichen Anlage ist nichts mehr erhalten, stattdessen ist sie heute Teil eines landwirtschaftlichen Betriebs.

Wundervoll und jedem ans Herz zu legen ist übrigens die kleine, aber feine Pilgerunterkunft hier, ein eigener Wohnwagen nur für Pilger. Den Kontakt erhaltet ihr über die Kirchengemeinde Langenholtensen.

20:00
Auf dem idyllischen Klostergut haben wir auch noch Zeit für ein kleines Fotoprojekt. Die Ähnlichkeit mit diesem Pilgerpärchen ist frappierend, oder?

Der Mähdrescher im Hintergrund ist natürlich beabsichtigt, um Verwechslungen mit dem Original vorzubeugen – auch am gebrochenen Fuß muss Philipp noch arbeiten 😉

20:30
Blasenkontrolle: Mai-Britt +1 (Ferse links), Philipp +4 (unter den Fußballen). Was die Blasenversorgung angeht, machen wir durchaus Zugeständnisse: Da müssen Blasenpflaster schon sein!

22:15
Nach einer Dusche (jaja!), einem schnellen Abendbrot und unzähligen Mückenstichen geht es in die Koje. Morgen früh heißt es früh aufstehen!

Bilanz des Tages
Hier kommt die Bilanz des zweiten Tages unserer Pilgerreise mit neuen Berichten zur Tagesetappe, Weg und Wetter und unserer Gepäckstrategie.
Fehlerkorrektur: Wir sprechen im Video übrigens von 34 Kilometern Tagesetappe. Es waren in der Tat nur knapp 32, aber es hat sich definitiv angefühlt wie 34!


Für alle, die neugierig auf die genauere Streckenführung sind, mehr Statistik möchten oder nachwandern:

Tag 3: Wiebrechtshausen – Nikolausberg

Die Route und das Höheprofil von Tag 3. Den Bogen sind wir übrigens nicht aus Lust und Laune gelaufen, sondern das ist die historische Wegführung um einen Berg herum. Zum rekonstruierten Streckenverlauf hier in unserem Vorbericht und hier im Interview mit Dr. Niels Petersen. (Unten auf der Seite gibt es eine detaillierte Ansicht auf unsere Route per Komoot)

06:30
Guten Morgen, Start von Tag 3! Wie gesagt, heute war früh aufstehen angesagt, und wir sind schon frisch und fröhlich auf dem Weg! Heute gehen wir ein großes Stück entlang der Via Scandinavica, dem nordeuropäischen Teil des Jakobswegs. Gut zu erkennen an den gelben Pfeilen.

07:15
Mai-Britt fängt uns Ponys für die letzte beschwerliche Etappe…
… aber man soll sich bekanntlich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, sonst bekommt man einen gewischt. Wach wie nie!

07:30
Kurz vor Northeim überholt uns ein Radfahrer, hält an und fragt: “Seid ihr Handwerker?”
Wir: “Ja, HistoFaber!”

Aber er hat uns eingeladen, ihn gleich auf einen Kaffee zu treffen. Leider lag das Café nicht auf unserem Weg. Trotzdem danke!

08:00
Früh am Morgen auf dem ausgestorbenen Northeimer Marktplatz. Zeit für ein bisschen Ausgelassenheit!

08:30
Bei einem kleinen Frühstück aus Brot und Käse treffen wir noch einmal Lukas und Anneke Vos, die uns vom Pilgerbrief und den Zeichen an ihrem Hut erzählen. Hier geht’s zu den Videos.

12:00
In Bishausen treffen wir drei Mitarbeiter vom Landeshistorischen Institut der Uni Göttingen und vom Handelsrouten-Projekt Viabundus, die uns das letzte Stück des Weges begleiten.

12:45
Ein umgefallener Baum blockiert die Straße! Wegelagerer?

14:00
Do as we do! Repent!
Was wohl die Geschichte hinter diesem Schild ist?

14:40
In Billingshausen machen wir eine letzte Rast. Kurz die Füße erholen lassen.
Derweil führen wir das zweite Experteninterview mit Dr. Niels Petersen zu Mobilität im Mittelalter.

15:20
Weiter geht’s, die letzten 8 Kilometer! Die Füße und die müden Beine bremsen, aber die Erwartung des Ziels treibt voran.
Dank unserer Begleiter gibt es jetzt auch mal Fotos von beiden Pilgern auf dem Weg.

16:30
Kurz vor Nikolausberg findet sich noch ein interessanter Wegpunkt. Die Ruine der Rieswarte, Teil der ehemaligen Göttinger Landwehr zum Schutz des Stadtgebiets gegen feindliche Übergriffe. Der Wachtturm wurde im 15. Jahrhundert errichtet.

16:55
Das Ziel erscheint am Horizont!

17:00
Punktgenau zur verabredeten Zeit kommen wir an der Nikolausberger Kirche an. Wie es ab hier weitergeht und wie ein mittelalterlicher Pilger die Kirche erlebt haben mag, erfahrt ihr in unserem Ankunft-Bericht

… aber was wir euch natürlich nicht vorenthalten wollen, ist die Bilanz des heutigen Tages! Auf der Rückreise aus dem Zug, und natürlich ganz der Situation angemessen mit Maske!


Für alle, die neugierig auf die genauere Streckenführung sind, mehr Statistik möchten oder nachwandern:

Experteninterview: Mobilität im Mittelalter

Dr. Niels Petersen ist Landeshistoriker an der Uni Göttingen und co-koordiniert das Straßen- und Handelsroutenprojekt Viabundus. Viabundus war unser zentrales Hilfsmittel, um die historische Strecke für unsere Pilgerroute zu rekonstruieren. Mit ihm sprachen wir über die Themen Reisen und Mobilität im Mittelalter. Dabei sind er und zwei weitere Mitarbeiterinnen sogar selbst ein Stück des Weges mit uns gepilgert.

Experteninterview: Reliquienverehrung im Mittelalter

Am Morgen unseres zweiten Reisetages treffen wir am ehemaligen Kloster Brunshausen Julia Hartgen, M.A., die Leiterin des Stifts- und Klostermuseums Portal zur Geschichte – Sammlung Frauenstift Gandersheim. Am Beispiel der aus dem umfangreichen Gandersheimer Schatz zahlreich erhaltenen Reliquien, die erst vor wenigen Jahren umfassend erschlossen wurden, gibt sie uns Einblicke in den mittelalterlichen Heiligenkult und die Reliquienverehrung. 

Ankunft in Nikolausberg: Die Kirche durch die Augen eines mittelalterlichen Pilgers

Schon in unserem VorWeg #4 haben wir euch von Nikolausberg, der Verehrung des heiligen Nikolaus und der dortigen Wallfahrt berichtet. Während wir euch in diesem ersten Post zeigen wollten, was wir heute noch über die dortige Wallfahrt wissen, so sollt ihr hier nun einen Eindruck von der Kirche in Nikolausberg bekommen: Viele der mittelalterlichen Bildwerke haben sich bis heute erhalten, einige stehen noch immer an ihrem originalen Aufstellungsort. So ist das nicht nur das Bild wie wir die Kirche gesehen haben, sondern vielleicht auch die Form wie sie sich einem mittelalterlichen Pilger präsentiert haben mag.

Punkt 17:00 Uhr am Sonntag erreichen wir die Kirche. Dort treffen wir Ulrich Hundertmark, den Vorsitzenden des Kirchenvorstands, und Hildburg Rosenbauer, die örtliche Heimatpflegerin. Frau Rosenbauer führt uns chronologisch durch die Kirche: Angefangen mit den Säulenkapitellen und der Skulptur einer Sitzmadonna, arbeiten wir uns vor Richtung Hauptaltar. Das jüngste Zeugnis sind die Graffiti der Kirchenbesucher, die bis in die Neuzeit reichen und sich hoch über die Wände des Chors erstrecken.

1) Die ältere Sitzmadonna an der Ostwand des südlichen Seitenschiffs stammt aus der Gründungszeit der Kirche im 12. Jh. Ihre Hände und das Kind sowie die Fassung und die Steine fehlen heute. Ob sie einmal Reliquien barg, ist ungewiss. 2) Die jüngere Sitzmadonna (frühes 14. Jh.) befindet sich am südlichen Vierungspfeiler. Anders als ihre ältere Schwester ist ihre Körpersprache lockerer und fließender. Der Thron, auf dem sie saß, wurde im 19. Jahrhundert abgesägt, als sie als Ersatz für fehlende Figuren in den Hauptaltar eingesetzt wurde. 3) In die gleiche Zeit datiert die Nikolausstatue in der Verlängerung des nördlichen Seitenschiffs. Im Mittelalter barg sie, genauso wie die jüngere Madonna, vermutlich Reliquien. Sie ist heute das “Wahrzeichen” der Kirchengemeinde. Die Fassung ist nicht mehr original. 4) Dieses Altarretabel am nördlichen Vierungspfeiler stammt aus der Zeit um 1400. Möglicherweise handelt es sich um das ehemalige Hauptaltarretabel, denn es datiert in die gleiche Zeit wie die Chorerweiterung. Dargestellt ist das Leben Christi, allerdings war die Mitteltafel so beschädigt, dass die fehlenden Bilder in moderner Interpretation von einem Künstler ergänzt wurden. 5-8) Der heutige Hauptaltar stammt aus der Zeit kurz vor 1500. Er zeigt geschnitzt die Kreuzigung Christi, umringt von einigen Heiligen in den Altarflügeln. Die meisten sind verloren und wurden später ergänzt, u.a. wurde auch die (2) hier vorübergehend eingesetzt. Der Altar ist ganz auf die Kirche und ihren Nikolauskult ausgerichtet: So findet sich Nikolaus im Hintergrund der Kreuzigungsszene (6) und Reste eines Nikolauses sind auch noch auf der Rückseite des Altarunterbaus (Predella) zu erkennen (7). Hinter der kleinen Tür in der Predellenrückseite wurden ursprünglich vermutlich die Reliquien des Heiligen verwahrt (8). Sie ist heute übersät von den Inschriften zahlreicher neuzeitlicher Kirchenbesucher. 9) Auch im 16. Jahrhundert verewigten sich aber schon Besucher in der Kirche wie bspw. Hans Roleff. Sein Graffiti von 1560 zählt zu den ältesten sicher datierbaren und fällt damit kurz nach die lutherische Reformation – ob er, ganz im protestantischen Sinne, lediglich Kirchenbesucher war oder ob dahinter vielleicht doch noch Motive einer katholischen Heiligenverehrung standen, ist nicht mehr zu sagen.

Im 14. Jahrhundert wurde der Chor der Kirche im gotischen Stil erweitert. Dieser Umbau war auch ein Service für die Wallfahrer. Sie konnten nun den Altar umrunden und dadurch den Reliquien in der Predella besonders nahe kommen. Philipp nimmt den Weg, den auch ein mittelalterlicher Pilger damals gegangen sein mag und nimmt euch im Video mit.

Obwohl die Wallfahrt zum heiligen Nikolaus genauso wie seine Reliquien mit der Reformation verschwanden, spielt der Heilige auch heute noch eine große Rolle in der Nikolausberger Gemeinde. So berichtet Herr Hundertmark vom Aktionsjahr “1000 Jahre Nikolausverehrung” 1999. Damals gab es eine Ausstellung zum heiligen Nikolaus in der Klosterkirche. Und seitdem werden in Nikolausberg auch wieder regelmäßig Kinderbischöfe gewählt.

Der Brauch der Kinderbischöfe geht auf das 13. Jahrhundert zurück. Einmal im Jahr, meistens am Nikolaustag, wurde ein Kinderbischof gewählt, der für einen Tag das Amt des Bischofs oder Abts und einen Teil seiner Aufgaben übernehmen durfte. Er gab nun den Ton an. Die Tradition entstand an Kloster- und Stiftsschulen und verbreitete sich von dort auch schnell in andere Kreise. Mit der Reformation verschwand der Brauch langsam wieder.

Nikolausberg ist heute eine von wenigen Kirchengemeinden in Deutschland, wo diese Tradition wieder auflebt, jedoch in etwas anderer Form. Jährlich zum Nikolaustag werden im Beisein der Nikolausstatue drei Kinder aus dem Ort gewählt, die dann für ein Jahr die Interessen der Jüngeren vertreten dürfen. Während ihrer Amtszeit organisieren sie gemeinsame Aktionen, ehren einen besonders kinderfreundlichen Erwachsenen und stärken so den Dialog zwischen Kindern und Erwachsenen im Ort. Natürlich haben die drei Kinderbischöfe auch eine Amtskleidung: eine Amtskette mit dem Nikolausberger Pilgerzeichen. Nikolaus ist und bleibt also in Nikolausberg lebendig!

Nach der Führung gab es noch kleine Snacks und Getränke für uns. Wir bedanken uns ganz herzlich bei der Kirchengemeinde Nikolausberg und ganz besonders bei Ulrich Hundertmark und Hildburg Rosenbauer für den freundlichen Empfang, die Unterstützung, das Engagement und die Bereitschaft, uns die Kirche zu zeigen!

Und wir hoffen, auch euch hat es gefallen! Natürlich ist das, was wir euch hier zeigen, nur ein kleiner Einblick in die ehemalige Klosterkirche Nikolausberg. Aber wir wollen ja auch nicht zu viel verraten. Wenn ihr die Kirche selbst einmal besuchen und den Weg der mittelalterlichen Wallfahrer gehen wollt, sie ist in den Sommermonaten täglich für Besucher geöffnet. Ein Besuch lohnt sich!

VorWeg #4: … und das Ziel ist das Heil

Eine Wallfahrt ist natürlich nicht reiner Selbstzweck, sondern es geht um das höchste Gut des mittelalterlichen Menschen: Sein Seelenheil. Ohne Seelenheil, also eine „gesunde“, sündenfreie Seele, kann der Mensch nach seinem Tod nicht in den Himmel kommen. Es ist also sinnvoll, bereits zu Lebzeiten für das Heil seiner Seele vorzusorgen und dafür werden im Verlauf des Mittelalters zahlreiche Strategien entwickelt.[1] Eine davon ist die Unterstützung der Heiligen, die man beispielsweise auf Pilger- und Wallfahrten für sich erwerben konnte – so auch in Nikolausberg. In diesem VorWeg-Post möchten wir euch gerne zeigen, wie die Wallfahrt nach Nikolausberg aussah, woher die Pilger kamen, und was sie dabei tatsächlich für ihre Seele gewinnen konnten. Das erklärt, warum auch Anneke und Lukas Vos gerade Nikolausberg als Ziel für ihre Reise ausgewählt haben.

Die Kirche und das Kloster

Nikolausberg, damals noch Ulrideshusen oder Olrikeshusen, ist heute ein malerisches kleines Dorf auf einem Berg nördlich von Göttingen in Südniedersachsen. Hier wurde um die Mitte des 12. Jahrhunderts ein Augustinerinnenkloster gegründet. Dieses Kloster besaß Reliquien des heiligen Nikolaus von Myra. Auch nachdem das Kloster bald nach der Gründung an einen neuen Standort übersiedelte, nämlich nach Göttingen-Weende, blieb die Kirche in Nikolausberg erhalten und auch die Reliquien des heiligen Nikolaus verblieben dort und gehörten weiterhin zum Kloster. Um die Mitte des 14. Jahrhunderts entwickelte sich hier eine regelrechte Kultstätte für den heiligen Nikolaus und eine Wallfahrt von überregionalem Ausmaß entstand.[2]

Der heilige Nikolaus – Beschützer der Gefangenen

Heute kennen ihn die meisten als den „kleinen Bruder“ vom Weihnachtsmann (man vergleiche den englischen Namen Santa Claus!), damals war er Patron der Seefahrer und Schutzheiliger der Gefangenen: der heilige Nikolaus von Myra. Gesicherte Nachrichten über Nikolaus‘ Leben und Wirken gibt es nicht. Das meiste ist in Form von Legenden überliefert, wobei nicht ausgeschlossen werden kann, dass möglicherweise mehrere historische Personen in der legendarischen Person des Nikolaus zusammenflossen. Diese Legenden prägen auch die mittelalterliche Vorstellung von Nikolaus und sind Grundlage des Kults in Nikolausberg.

Nikolaus (*um 283) wirkte zunächst als Priester, später als Bischof in Myra in der heutigen Türkei. Verschiedene Legendentraditionen ranken sich um seine Person: So soll er einigen Frauen in seiner Gemeinde geholfen haben, indem er ihnen Geld durchs Fenster oder durch den Kamin zukommen ließ – die Grundlage für die heutige Vorstellung vom heiligen Nikolaus, der den Kindern am Nikolaustag Geschenke bringt. Als Bischof soll er drei zu Unrecht festgesetzte Feldherren befreit haben, indem er dem Kaiser im Traum erschien und ihm auftrug, seine Gefangenen ziehen zu lassen. Ebenso soll er drei schiffbrüchigen Pilgern zu Hilfe gekommen sein. Wie viele frühe Christen wäre auch Nikolaus beinahe der Christenverfolgung zum Opfer gefallen. Er wurde zwar gefangen und gefoltert, überlebte jedoch und starb erst um 348. Noch heute kann man im von Coca Cola geprägten Outfit des Weihnachtsmanns den ursprünglichen Nikolaus erkennen: Der lange Mantel und die zur Zipfelmütze erschlaffte Mitra erinnern noch an die bischöfliche Kleidung.

Die Verehrung des Nikolaus als Heiligem setzt im 6. Jahrhundert ein und erreichte Westeuropa im Hochmittelalter.[3] In Nikolausberg wurde er vor allem als Schutzpatron der Gefangenen verehrt: Das belegen zahlreiche Ketten und Fesseln, die sich im 15. Jahrhundert in der Kirche fanden. Solche sogenannten Votivgaben wurden von ehemaligen Gefangenen, die für ihre Befreiung eine Wallfahrt nach Nikolausberg gelobt hatten, als Zeichen ihrer Dankbarkeit in der Kirche niedergelegt.[4]

Wie aus Ulrideshusen Nikolausberg wurde: Ablass und Wallfahrt

Das Kloster muss die Reliquien[5] des heiligen Nikolaus bereits sehr früh in seiner Geschichte erhalten haben. Sie verblieben in Ulrideshusen, als der Konvent nach Weende umzog.

1261 gewährte Papst Alexander IV. einen ersten Ablass für Nikolausberg, also einen Erlass der Sündenstrafe um eine gewisse Zeitspanne. Dieser Ablass galt für den Nikolaustag am 6. Dezember und die folgende Woche, die Oktav, und umfasste 40 Tage.[6]

Eine richtige Wallfahrt setzte aber wohl erst gut 100 Jahre später ein, um die Mitte des 14. Jahrhunderts. In diese Zeit datiert die Gründungslegende des Klosters, die beschreibt, wie das Kloster auf den letzten Wunsch eines auf dem Weg sterbenden Pilgers hin in Ulrideshusen errichtet und mit den Reliquien des Nikolaus ausgestattet wurde. Bereits während des Klosterbaus sollen sich erste Wunder ereignet haben, die auch danach nicht abrissen.[7] Zwar behauptet der Gründungsbericht, dass es schon seit dem 11. (!) Jahrhundert eine rege Wallfahrt nach Nikolausberg gegeben habe, aber solche „Rückdatierungen“ sind im Mittelalter eine beliebte Strategie, um einem neuen Kult künstlich ein bisschen mehr Tradition und damit Legitimation zu verleihen. Vermutlich entstand erst zu dieser Zeit eine richtige Wallfahrt, die das Kloster mit der Legende zusätzlich fördern wollte, denn eine Wallfahrt brachte ja auch Ansehen und Einnahmen mit sich – „gewusst, wie“ eben!

Eine weitere Strategie, die Wallfahrt attraktiv zu machen, war, den Ablass zu erhöhen, und hierauf verstand man sich in Nikolausberg sehr gut. 1387 verliehen der Erzbischof von Magdeburg und der Hildesheimer Bischof jedem, der an einem von 35 ausgewählten Festtagen, in deren Oktav oder an einem Sonntag nach Nikolausberg kam und dort den Heiligen verehrte, 40 Tage Ablass. Rechnen wir das einmal hoch, dann war es fast unmöglich, keinen Ablasstag zu treffen. Umso besser für unsere beiden Pilger, Anneke und Lukas Vos! Auch dieser Ablass ist also im Zusammenhang der beginnenden Wallfahrt zu sehen.

Wie verhält sich die Nikolausberger Wallfahrt aber zu anderen Pilgerzielen dieser Zeit? Mit den drei großen Pilgerzielen Jerusalem, Rom und Santiago de Compostela konnte sie sicher nicht mithalten, und auch im Deutschen Reich gab es mit Einsiedeln oder Wilsnack sehr viel bedeutendere Wallfahrten, die auch sehr viel mehr Ablass boten. Neben diesen großen Wallfahrtszielen entwickelte sich im späten Mittelalter aber auch ein immer engmaschigeres Netz von sogenannten Nahwallfahrtsorten. Auch die erfreuten sich großer Beliebtheit, denn im Gegensatz zu einer Fernreise konnten sich auch die „kleinen Leute“ eher mal eine Pilgerreise zu einem nahen Wallfahrtsort leisten.

Unser Nachguss des erhaltenen Pilgerzeichens

Hier spielt Nikolausberg gewissermaßen eine Zwischenrolle: es war ein „Wallfahrtsort mit deutlich überregionaler Anziehungskraft, aber doch nicht das Ziel einer Fernwallfahrt“.[8] Das wird deutlich, wenn man sich einmal anschaut, woher die Wallfahrer denn kamen. Den schriftlichen Quellen zufolge kamen sie aus Münden, Winzenburg, Kochstedt, Kassel, Calenberg, Lübeck, weitere vermutlich aus Einbeck, Northeim, Meißen und Schlesien. Ein deutlicher Schwerpunkt lag also auf dem mitteldeutschen Bereich zwischen Südniedersachsen, Hessen, Nordthüringen und Sachsen.[9] Hildesheim, von wo Anneke und Lukas lospilgern, fällt ebenfalls genau in dieses Einzugsgebiet (mehr zu unserem Streckenverlauf).

Neben diesen regionalen Wallfahrten, die oft nur wenige Tagesreisen in Anspruch nahmen, gab es aber auch Pilger aus weiter entfernten Regionen. Dabei war Nikolausberg aber vermutlich eher ein Durchreisepunkt zu einem entfernteren Wallfahrtsort denn eigentliches Ziel: So legte der Lübecker Johann Nywold 1414 testamentarisch fest, dass in seinem Auftrag ein Pilger nach Thann und Einsiedeln reisen und auf dem Weg dorthin auch in Nikolausberg Halt machen sollte.[10] Nikolausberg war dann sogenannter Transitwallfahrtsort.

Das Einzugsgebiet wird noch einmal deutlich, wenn wir uns die Verbreitung der Nikolausberger Pilgerzeichen ansehen. Zwar ist nur eines der empfindlichen Zinn-Blei-Zeichen im Original überliefert, es findet sich aber auch als Abguss auf zahlreichen Glocken. Die Verteilung der rund 100 überlieferten Pilgerzeichen seht ihr in der Karte. Übrigens war Nikolausberg im 14. Jahrhundert einer von nur sechs Wallfahrtsorten östlich des Rheins, die überhaupt Pilgerzeichen hatten![11]

Verteilung der Pilgerzeichenfunde und Glockenabgüsse des Nikolausberger Zeichens aus der Datenbank von Kunera

Wallfahrten waren aber nicht nur immer fromme Unterfangen: Wo viele Menschen zusammenkommen – und das war in Nikolausberg ganz offensichtlich der Fall – entsteht auch immer Handel und wird auch immer gefeiert. Zu Wallfahrtstagen wurde in Nikolausberg Einbecker Bier ausgeschenkt. Dabei wurde auch durchaus mal über den Durst getrunken; Streitereien und Handgreiflichkeiten blieben dabei nicht aus, wie von anderen Wallfahrtsorten belegt! Händler schlugen auf dem Kirchhof ihre Stände auf und verkauften den Pilgern fromme Bildchen und Devotionalien. Das Kloster sah das gar nicht gerne, denn es würde die Andacht stören, und bat 1434 um Unterstützung in dieser Sache.[12]

Wir sehen also, dass die Wallfahrt nach Ulrideshusen gerade im späten Mittelalter beliebt war und bald auch überregionale Pilger anzog. Anfangs noch vom Konvent selbst befördert, verselbstständigte sich die Wallfahrt bald mit Handel und Bier, sodass das Kloster eingreifen musste. Der Kult um den heiligen Nikolaus war dabei so wichtig, dass er sogar eine Namensänderung des Ortes bewirkte: Ulrideshusen wurde im 15. Jahrhundert zunächst zu sinte Nicolawes berche to Olrikeshusen und schließlich zu Nicolaes berge.[13]

Noch immer vorhanden: Zeugnisse der Wallfahrt

Obwohl die Nikolausreliquien 1542 in der Reformation entfernt wurden, finden sich auch heute in der mittelalterlichen Kirche noch zahlreiche Zeugnisse des Heiligenkults und der Wallfahrt. Die meisten von ihnen stehen noch immer an ihrem originalen Aufstellungsort, sodass die Kirche einen guten Eindruck davon gibt, welches Bild einen mittelalterlichen Wallfahrer und damit auch Lukas und Anneke in Nikolausberg erwartet hätte.

Der Nikolausberger Chor mit dem Hochaltarretabel

Darunter fällt eine Holzstatue des heiligen Nikolaus aus der Zeit um 1300, die damals möglicherweise auch Reliquien enthielt. Zwei Altarretabel sind auch noch vorhanden, wobei der Hochaltar im Chor wohl ebenfalls Nikolausreliquien enthalten hat. Der Chor wurde vor 1400 so umgebaut, dass die Pilger den Altar umschreiten und von allen Seiten bewundern konnten. Auf seiner Rückseite sieht man noch heute die Reste eines heiligen Nikolaus mit Mitra aufgemalt. Für diesen Altar stickten die Weender Nonnen einen Altarbehang, der das Leben des heiligen Nikolaus darstellt. Graffiti und Namenskritzeleien, die sich noch heute an den Wänden und am Altar finden, könnten ebenfalls von Pilgern stammen. Sie belegen: “Ich war hier”. Die einzigen sicher datierbaren Graffiti stammen aber aus der Zeit nach der Reformation, sind also vielleicht eher schmierenden Ausflüglern als tatsächlichen Pilgern zuzuschreiben.

All das werden wir euch natürlich auch in unserem Reisetagebuch zeigen!

Fazit: Nikolausberg – eine ‚vergessene‘ Wallfahrt?

Obwohl die Wallfahrt mit der Reformation endete, war Nikolausberg auch danach noch immer eine Reise wert, statt Kultstätte wurde es nun zum sonntäglichen Ausflugsziel. Schaut man sich Nikolausberg aber heute einmal an, so möchte man kaum glauben, dass es sich hierbei um eines der beliebtesten Wallfahrtsziele Nord- und Mitteldeutschlands gehandelt hat! Erst langsam kommt die Bedeutung des Ortes wieder ins Gedächtnis: Zunächst durch wissenschaftliche Untersuchungen, vor allem von Wolfgang Petke, dann auch durch Ausstellungen, wie die große Pilgerausstellung, die 2020 in Lüneburg und Stade zu sehen ist, und auch wir wollen mit unserem Pilgerprojekt dazu beitragen, Nikolausberg wieder ein bisschen ins Gedächtnis zu rufen.

Wer nun also angefixt ist: Die Nikolausberger Kirche ist als Pilgerkirche in den Sommermonaten tagsüber geöffnet und kann besucht werden. Ab Oktober sind einige Objekte aus Nikolausberg, darunter die Statue und die Pilgerzeichen, in der Doppelausstellung in Stade zu sehen. Und wem beides zu weit ist, dem empfehlen wir dringendst, uns als „Pilger im Geiste“ auf unserer Tour zu begleiten (mehr dazu im nächsten Post)! Es gibt noch vieles zu entdecken – auf dem Weg und in Nikolausberg!

Nachträgliche Ergänzung:
Mittlerweile ist die Pilgerreise vorrüber und wir waren sicher und wohlbehalten in Nikolausberg angekommen. Hier berichten wir euch von unserer Ankunft und geben euch noch viele weitere Einblicke in die Zeugnisse der Wallfahrt. Außerdem sprachen wir mit den Vertretern der Gemeinde über die Tradition der Kinderbischöfe und nehmen euch virtuell mit auf einen Gang durch den Chor der Kirche, wie ihn auch ein mittelalterlicher Pilger erlebt haben könnte.


[1] Hier möchte ich gerne dazu sagen, dass diese Erklärung sehr vereinfacht ist. Die mittelalterliche Frömmigkeit, das Sünden-, Reue- und Bußsystem, und auch die Vorstellung von jenseitiger Gnade und Buße sind sehr viel komplexer als hier kurz zusammenfassend dargestellt – und gerade für uns moderne Menschen, in deren Leben Religion und Glaube eine sehr viel geringere Rolle spielen, oft nur sehr schwer zu begreifen. Diese Hintergründe zu verstehen, ist essentiell, um das mittelalterliche Bedürfnis nach Absicherung des Seelenheils zu begreifen. Das soll aber nicht Thema dieses Blogposts sein.

[2] Hildegard Krösche, Weende, in: Nds. Klosterbuch 3, hg. von Josef Dolle u.a., Bielefeld 2012, S. 1498-1505.

[3] Zum heiligen Nikolaus und der Verbreitung des Kults vgl. https://www.heiligenlexikon.de/BiographienN/Nikolaus_von_Myra.htm

[4] Die Wallfahrt auf den Nikolausberg bei Göttingen, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 114 (2016), S. 101-134, S. 102.

[5] Der Reliquienkult basiert auf der Vorstellung, dass den sterblichen Überresten eines Heiligen oder Gegenständen aus seinem Besitz noch ein Teil seiner heiligen Kräfte innewohnt. Solche Reliquien fanden sich in jeder mittelalterlichen Kirche und werden noch heute in jeder katholischen Kirche bewahrt. Woraus genau die Nikolausberger Reliquien bestanden, ist ungewiss, aber legt die spätere Gründungslegende nahe, dass es sich um Knochen handelte. Mehr zum mittelalterlichen Reliquienkult in unseren Experteninterviews, die wir auf der Pilgerreise führen werden.

[6] Petke, a.a.O., S. 108.

[7] Petke, a.a.O., S. 106.

[8] Petke, a.a.O., S. 121.

[9] Petke, a.a.O., S. 121.

[10] Petke, a.a.O., S. 118.

[11] Petke, a.a.O., S. 123.

[12] Petke, a.a.O., S. 112-113.

[13] Petke, a.a.O., S. 126.

VorWeg #2: Die Ausstattung

Vergleicht man einen mittelalterlichen Pilger und einen modernen Pilger, so hat ihre Ausstattung auf den ersten Blick nichts gemeinsam. Legen wir heute bei längeren Outdoor-Touren Wert auf zuverlässige Funktionskleidung, so musste sich der mittelalterliche Pilger mit einfacheren Mitteln begnügen. Trotzdem erkennt man bei näherem Hinsehen erstaunlich viele Parallelen und Gemeinsamkeiten. Hier wollen wir euch gerne zeigen, welche Kleidung und Ausstattung wir mitnehmen auf unsere Wallfahrt nach Nikolausberg.

Das Pilgergepäck wird vor allem von der Reiseart bestimmt. Ein mittelalterlicher Fußpilger hat andere Bedürfnisse als einer zu Pferd oder zu Schiff. Geschlafen wurde nur in Ausnahmefällen unter freiem Himmel, sondern meistens in Herbergen oder den Pilgerhospitälern der Klöster. Gerade an vielbereisten Handels- und Pilgerwegen fand man davon ausreichend. Auch die Länge der Reise bestimmt das Gepäck. Pilgerte man über mehrere Monate, möglicherweise sogar über Saisongrenzen oder Klimazonen hinweg, so brauchte man mehr Kleidung. Die wurde aber nicht zwangsläufig komplett mitgeführt, sondern konnte im Zweifelsfall auch hinzuerworben oder ausgebessert werden. Bei einer Nahwallfahrt wie der unseren brauchte man das aber nicht.

Die Schriftquellen – Packlisten aus dem Mittelalter?

Konkrete Packlisten, die beschreiben, was die Pilger auf ihrem Weg mit dabeihatten, gibt es aus dem Mittelalter keine. Trotzdem gibt es einige erstaunlich ausführliche Hinweise wie aus diesem Lied von Santiagopilgern[1]:

Wer das elent bawen well
Der heb sich auf und sei mein g’sell
Wol auf sant Jacobs straßen.
Zwei par schuech bedarf er wol
Ein schüßel bei der flaschen.

Ein braiten huot den sol er han
Und on Mantel sol er nit gan
Mit Leder wol besezet.
Es schnei oder regn oder wähe der wint
Daß ihn die Luft nicht nezet.

Sack und stab ist auch darbei
Er luog, daß er gebeichtet sei,
Gebeichtet und gebüßet!
Kumt er in die welschen lant,
Er findt kein teutschen priester.

Der Liedtext hat nicht den Anspruch, eine gesamte Packliste zu liefern, ist aber dennoch recht ausführlich, vor allem, was die ‚Essentials‘ des mittelalterlichen Pilgers angeht: Schüssel und Flasche sind unabdingbar, wenn du unterwegs essen und trinken können willst. Tasche und Stab gehören zu den markantesten Ausstattungsgegenständen: Sie werden vor der Reise vom Priester übergeben[2] und werden bald zu den Erkennungszeichen der Pilgerschaft.

Interessant ist, dass das Lied zwei Paar Schuhe nennt: die Ledersohlen mittelalterlicher Schuhe laufen sich relativ schnell durch, sodass ein Pilger auf jeden Fall ein Ersatzpaar brauchte, auch für den Fall, dass eines nass würde. Trotzdem dürften für eine solch lange Strecke wie nach Santiago auch zwei Paar nicht gereicht haben, ohne zwischendurch geflickt oder ersetzt zu werden.

Außerdem nennt das Lied Hut und Mantel, widmet ihnen sogar eine ganze Strophe. Wichtig ist, dass diese wetterfest sind, der Mantel sogar am besten mit Leder besetzt. Auch das Mittelalter kannte also schon Funktionskleidung!

Diese Ausstattungsgegenstände haben sich nur selten erhalten, aber tatsächlich gibt es drei überlieferte Mäntel, die auch genau diese Anforderungen erfüllen:

Pilgermantel des Jakob VII. Trapp (um 1560, Wollfilz mit appliziertem Jerusalemkreuz, heute: Schloss Churburg): http://wwwg.uni-klu.ac.at/kultdoku/kataloge/51/html/3632.htm; Pilgermantel des Stephan III. Praun (1571, Schwarzer Übermantel aus Leder, heute: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg): http://objektkatalog.gnm.de/objekt/T551; Mantel eines Lourdes-Pilgers (um 1500, Leder): leider gibt es hier nur inoffizielle Abbildungen auf Pinterest, aber über Google werdet ihr fündig 😉

Während der erste und dritte Mantel tatsächlich die Zweckdienlichkeit unterstreichen – hier geht klar Funktion vor Pracht, wie beispielsweise die gestückelten Nähte beim ersten zeigen –, ist Prauns mit vielen Pilgerzeichen besetzte Pilgerkleidung vor allem Repräsentationsstück. Praun hat es vermutlich erst am Ziel seiner Reise in Spanien gekauft; dennoch entspricht die Form dem typischen Pilgermantel.

Was das Lied aber für sich behält, ist, was die Pilger abgesehen davon noch trugen: Was für Kleider trugen sie? Was führten sie in ihren Taschen mit sich?

Die Bildquellen – altmodischer Zwiebellook

Hierfür sind zeitgenössische Abbildungen unsere wichtigste Quelle. Was die Kleidung angeht, scheinen die Pilger ähnliche Kleidung getragen zu haben, wie im Alltag auch. Auffällig ist aber, dass viele Pilger auch im ausgehenden Mittelalter relativ altmodisch anmutende Kleider getragen zu haben scheinen wie man beispielsweise in dieser Darstellung eines Pilgerwunders von 1525 sehr gut erkennen kann.

Das muss nicht nur ein Zeichen von frommer Bescheidenheit sein, sondern hat auch einen ganz praktischen Zweck: Entgegen der figurbetont geschnittenen, oft stoffreichen und häufig mit aufwändiger Schnürung versehenen Kleider des 15. Jahrhunderts ist die Kleidung der Pilger weiter geschnitten. Sie war daher bequemer, gab mehr Bewegungsfreiheit, und konnte relativ schnell an- und ausgezogen werden. Gleichzeitig bot der weitere Schnitt eine zusätzliche Isolierschicht, die sowohl bei Hitze als auch bei Kälte hilfreich war. Gleiches gilt für das Schleiertuch der Frauen: Die Schleiermode aus Wimpel und aufgestecktem Schleiertuch war im ausgehenden Mittelalter eigentlich schon lange aus der Mode, bot aber bei Wind zusätzlichen Kälte- und bei Hitze besseren Sonnenschutz im Nacken.

Das Mittel der Wahl – und das ist es auch beim modernen Pilgern – war also der Zwiebellook. Die mittelalterliche Kleidung ist ohnehin aus mehreren Schichten, bestehend aus Unterwäsche, Unterkleid, Überkleid und gegebenenfalls Mantel, aufgebaut. Das hielten auch die Pilger so.

Darüber hinaus geben uns die Bildquellen aber auch wertvolle Hinweise über die Formenvielfalt bestimmter Ausstattungsgegenstände: beispielsweise die Hüte oder solche Pferdepacktaschen, die manche Pilger mit sich führten. Daneben trugen viele Pilger auch Devotionalien wie Heiligenbildchen (hierunter fallen auch die Pilgerzeichen) oder einen Rosenkranz bei sich.

Und sonst? – Der “Erfahrungsansatz”

Was sie sonst noch so mit sich führten, ist nur selten konkret überliefert. Hier hilft uns aber unsere moderne Pilgererfahrung, die – natürlich! – nicht einfach so auf die mittelalterlichen Verhältnisse übertragen werden kann, aber die zumindest Denkanstöße gibt, was womöglich vorstellbar gewesen wäre. Der limitierende Faktor ist hier, im mittelalterlichen wie im modernen Pilgern, ganz klar das Gepäck: Es bietet nicht unendlich Platz und je weniger Gewicht man auf den Schultern trägt, desto besser!

Während der moderne Pilger einen Pilgerpass mit sich führt, hatten mittelalterliche Pilger für gewöhnlich einen Pilgerbrief, ausgestellt vom Priester ihrer Heimatpfarrei, der sie als Pilger auswies und mit dem sie Zutritt zu Städten und Pilgerunterkünften hatten. Ein solcher ist auch für die Strecke von Hildesheim nach Nikolausberg belegt.

Zusätzlich werden wir häufig gefragt, wie die Pilger es denn mit dem Bargeld und mit der Unterwäsche bzw. Körperhygiene hielten. Zugegeben: Beide Fragen sind nur schwer zu beantworten, aber es gibt einige wahrscheinliche Überlegungen: Geld hatten die Pilger sicherlich nur wenig dabei. Mit zu viel Barvermögen lief man Gefahr, ausgeraubt zu werden. Allerdings brauchte man auch nicht so viel: Unterkünfte in Pilgerherbergen waren oft umsonst, Spenden an Pilger sind ebenfalls überliefert, und sollte man doch einmal Geld brauchen, so konnten gerade pilgernde Handwerker sich unterwegs auch immer etwas verdienen.

Die Frage nach der Unterwäsche ist noch schwerer zu beantworten, weil mittelalterliche Unterwäsche, gerade bei der Frau, ohnehin sehr schlecht belegt ist. Mehr als ein bis zwei Wechselsätze wird man aber vermutlich nicht mitgeführt haben (mehr hatten wir im 21. Jahrhundert auch nicht dabei). Welches Hygieneequipment die Pilger dabei hatten, ist ebenfalls nicht überliefert.

Und die Sicherheit? Pilger waren in der Regel unbewaffnet[3], dennoch hatten sie natürlich ein Essmesser dabei und ihren Stab, um sich im Notfall verteidigen zu können. Viele Abbildungen zeigen auch Dolche am Gürtel der männlichen Pilger.

Zusätzlich ist es durchaus wahrscheinlich, dass viele Pilger kleinere Notfallausstattungen wie Näh- und Flickzeug dabeihatten. Es nimmt nicht viel Platz weg und vereinfacht das Leben ungemein.

Letztendlich bleibt die Frage nach der Schlafausstattung und hier haben wir selbst lange überlegt, wie wir es am besten halten. Wie gesagt war das Schlafen unter freiem Himmel eigentlich nicht üblich. Die Herbergen funktionierten ähnlich wie auch die heutigen Pilgerherbergen: Es gab Schlafsäle oder Mehrbettzimmer, Bett und Matratze (oder Stroh) waren meistens vorhanden. Heute haben die meisten Pilger einen eigenen Schlafsack dabei. Da eine Wolldecke aber eindeutig das tragbare Gewicht sprengen würde und außerdem sehr voluminös und unhandlich ist, ist eher anzunehmen, dass die Pilger in, auf oder unter ihrer Kleidung geschlafen haben. Gerade die warmen Wollmäntel boten dafür beste Voraussetzungen. So halten es übrigens viele Handwerker auf der Walz noch heute.

Viele dieser Ausstattungsgegenstände beruhen also nur auf unseren modernen Erfahrungen und den daraus resultierenden Überlegungen. Die Pilgerreise selbst durchzuführen, wird uns sicherlich helfen, diese Überlegungen noch einmal zu überdenken und vielleicht sogar neue Erfahrungswerte zu bekommen. Was letztendlich aber bleibt, ist ihr spekulativer Wert: Wir werden nie sicher wissen, ob der mittelalterliche Pilger sie tatsächlich mit sich geführt hat, auf sie angewiesen war, oder vielleicht ganz andere Dinge sehr viel eher brauchte, ohne dass sie jemals in den Quellen überliefert wurden.

Damals und Heute – Der Vergleich

Hier zeigen wir euch eine direkte Gegenüberstellung des Gepäcks für die mittelalterliche Pilgerreise 2020 und die moderne nach Santiago de Compostela von 2015, beispielhaft an Annekes und Mai-Britts Ausstattung. Ihr seht, viele Ausstattungsgegenstände sind erstaunlich ähnlich:

Anneke: Hildesheim – Nikolausberg 2020 (3-4 Tage, 100km)Mai-Britt: Santiago de Compostela 2015 (2,5 Wochen, 400km)
PilgerstabTrekkingstöcke
Pilgertasche (Leinen)Wanderrucksack (36 Liter)
Schuhe (2x)Wanderstiefel, Flipflops
Hut, Schleier/WimpelMultifunktionstuch (2x)
MantelWind-/Regenjacke
ÜberkleidFleecejacke
OberkleidLangarmshirt (1x), T-Shirts (2x), Zip-Off-Wanderhose (1x)
Unterkleid (2x), Strümpfe (2x) mit StrumpfbändernBHs (2x), Unterhosen (3x), Wandersocken (3x)
HandtuchMicrofaserhandtuch (2x)
Essgeschirr: Schüssel, Löffel, Messer, PilgerflascheEssgeschirr: Outdoorbecher, Outdoortasse, Feldbesteck, zwei Wasserflaschen
Notfallausrüstung: Nähzeug, SchnurNotfallausrüstung: Nähzeug, Schnur
Devotionalien: Rosenkranz 
Ausweisdokumente: Pilgerbrief, PersonalausweisAusweisdokumente: Pilgerausweis, Reisepass, Personalausweis
Kosmetik: Seife, Kamm, Zahnbürste/ZahnpastaKosmetik: Deo, Shampoo, Zahnbürste/Zahnpasta, Bürste
Safety: Erste-Hilfe-Set, Blasenpflaster, Notfallapotheke, AlltagsmaskeSafety: Erste-Hilfe-Set, Blasenpflaster, Notfallapotheke, Impfpass
Technik: Smartphone, Powerbank, Netzteil, GorillaPodTechnik: E-Book-Reader, Smartphone, Powerbank, Netzteil, Kopfhörer
Geld: EC-KarteGeld: EC-Karte, Bargeld
TaschentücherTaschentücher
NotfalltaschenlampeNotfalltaschenlampe
 Schlaf-/Freizeitkleidung (1x Hose, 1x Shirt)
 Schlafsachen: Schlafsack, Isomatte
 Ultraleichter Tagesrucksack
Zu tragendes Gewicht (exkl. Wasser/Proviant)
Ca. 2,5kgCa. 8kg

*Um einige moderne Ausstattungsgegenstände wie Kosmetik für ein Mindestmaß von Körperhygiene, ein Erste-Hilfe-Set oder die Technik, damit wir während der Reise für euch berichten können, kommen wir nicht drumherum. Sie sind hier in kursiv gekennzeichnet.

Nachträglicher Kommentar:
Kurz vor der Reise haben wir noch einige wetterbedingte Anpassungen an unserer Ausstattung und Kleidung vorgenommen. Weil es ein sehr warmes Augustwochenende war, waren wir beide nur in zwei Kleidungsschichten unterwegs, hatten die dritte aber dabei. Diese fungierte auch als Wechselsatz, sollte ein Satz Kleidung aus irgendwelchen Gründen vollkommen untragbar werden. Diese Kleidung trugen wir, in unsere Mäntel gewickelt, als längliches Bündel auf dem Rücken. Da wir wirklich Glück mit dem Wetter hatten – zwar warm, aber durchgehend trocken -, kamen Mantel und Wechselkleidung aber gar nicht zum Einsatz. Den Test hiervon müssen wir also vertagen.
Wegen des zusätzlichen Bündels stellte nun aber die Gepäckverteilung ein Problem dar. Hier mussten wir verschiedene Varianten ausprobieren, die wir euch hier [Link] vorstellen. Die Test zu Schuhen und einen Bericht zu den Einsatzmöglichkeiten des Pilgerstabs hier [Link] und hier [Link].



[1] Wohl auf Sankt Jakobs Straßen. Hymnen, Gebete, Lieder und Reim-Gedichte der Jakobuspilgerschaft, hg. v. Fränkische St. Jakobus-Gesellschaft e.V., Würzburg 2008, S. 25-28.

[2] Aus dem Codex Calixtinus (12. Jh.), Buch 1: Predigt Veneranda dies, vgl.Der Jakobsweg. Ein Pilgerführer aus dem 12. Jahrhundert, hg. v. Klaus Herbers, Stuttgart 2008, S. 21-25.

[3] Wolfgang Petke, Die Wallfahrt auf den Nikolausberg bei Göttingen, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 114 (2016), S. 101-134, S. 111.