Those boots are made for walking – mit Wendeschuhen auf Langstrecke

Häufig werden wir gefragt, ob diese Mittelalterschuhe, die wir in unserer Darstellung tragen, nicht unbequem wären, ob man damit nicht ständig Blasen bekäme oder ob die überhaupt eine längere Benutzung aushalten würden. Hin und wieder werden wir sogar gefragt, wie man damit überhaupt gehen solle, da sie ja keine Dämpfung haben, und ob das fehlende Fußbett nicht ungesund wäre. Das sind alles äußerst wichtige Fragen, die wir bisher nur bedingt beantworten konnten, da eine Wochenendveranstaltung am Museum, eine Belebung oder auch eine halbtägige Wanderung die Erfahrungen nur eingeschränkt vermitteln.
Auf einige dieser Punkte können wir jetzt besser antworten, denn unsere Pilgerreise wurde nicht nur wissenschaftlich unterstützt, bspw. in Form der Interviews (Reliquien, Weg, Wallfahrt), sondern auch in Form von Ausrüstung. Genauer gesagt: Stefan Schneidewind von “Maßwerk – Historische Schuhe” stellte für uns jeweils ein Paar Schuhe her, die wir auf der Wanderung auf Herz und Nieren testen durften.

Daher möchten wir euch hier jetzt zumindest folgende Fragen beantworten:
1. Was trug ein Pilger eigentlich an den Füßen?
2. Was trugen wir auf unserer Reise?
3. Wie haben wir uns und unsere Schuhe vorbereitet?
4. Auf was für Böden bewegten wir uns?
5. Wie bewegten wir uns?
6. Wie war die Abnutzung und die generelle Lauferfahrung?

Was braucht der Pilger eigentlich an den Füßen?

St. Jakobus, mit den typischen
Pilgerinsignien, aber ohne Schuhe. Aus dem Stundenbuch des William Porter, um 1420

Schaut man auf die Abbildungen von Pilgern, stößt man direkt auf ein Problem:
Zahlreiche Darstellungen von Pilgern zeigen diese in vollkommen verschlissenen Schuhen, die mehr Fuß als Leder zeigen, oder laufen gar barfuß. Das heißt dennoch nicht, dass Pilger mit minderwertigen Schuhen oder ohne Schuhe auf den Weg gingen, sondern begründet sich darin, dass häufig heilige Pilger gezeigt werden (die dann barfuß dargestellt werden) oder wirklich ganz arme, bedürftige Pilger (die kaum noch Schuh an den Füßen haben und neue brauchen).

Wie man sieht, sind die abgebildeten Schuhe gerne mal sehr abgenutzt. Aber gleichzeitig erkennt man, dass es hohe Schuhe sind. “Le Livre des faiz monseigneur saint Loys”, um 1450

Und genau dies ist ein gutes Stichwort: neue Schuhe! Wir haben heute viele schriftliche Quellen überliefert, dass bspw. Bürger durchreisenden Pilgern neue Schuhe finanzierten, als eine Art gute Gabe. Und auch das Lied “Wer daz elend bauen wil” nennt ausdrücklich, dass man zwei paar Schuhe mit auf den Weg nehmen soll. Also Schuhe, und zwar inktakte, sind definitiv für einen Pilger notwendig.
Und wie man als Moderni aus eigener Wandererfahrung vermutet, überwiegen in den Darstellungen die Schuhmodelle, die über die Knöchel gehen. Man sieht zwar vereinzelt höhere Stiefel bis zum Knie oder nur kurze Halbschuhe, aber bis kurz über den Knöchel, sieht man am häufigsten.

© Stefan Schneidewind

Infolgedessen war die Wahl schnell getroffen: Philipp suchte sich die halbhohen Stiefel nach Fund aus Konstanz aus (Link) und Mai-Britt entschied sich für das Modell aus Dordrecht, ebenfalls halbhohe Stiefel (Link). Stefan fertigte sie uns beide jeweils mit Keder (das ist ein umlaufendes Lederstück zwischen Oberleder und Sohle, das zum einen noch bisschen abdichtet, das sich nach unten biegende Oberleder bei Bodenkontakt schützt und an das man eine zusätzliche Sohle anbringen kann), damit wir – auch wenn wir sie auf der Wanderung zerstören sollten – auch eine gute Chance haben, sie retten zu können und nach der Wanderung auch noch was von ihnen zu haben. Wir entschieden uns aber gegen eine von Vorherein aufgedoppelte Sohle; es blieb bei der einfachen Sohle von 6mm Stärke. Wir nahmen also bei uns gegenseitig Maß, schickten es an Stefan und die Vorfreude begann.

Wir haben beide beim Abmessen bereits eingeplant, wie wir die Schuhe tragen wollen. Philipp zog die mittelalterliche Hose an, die er auch beim Wandern tragen würde, damit die Stoffdicke mit eingeplant ist, und Mai-Britt vermaß ihre Füße mit Socken und ihren modernen Einlagen, damit die auch Platz im Schuh haben werden. Das Oberleder wurde sogar – man sieht es auf dem oberen Bild beim Schuh oben rechts sehr gut – wie bei mehreren historischen Vorbildern gestückelt!

Die Vorbereitung – die ersten Schritte

Philipps erste Probewanderung. 1. Die Sohle nach den ersten 50m, 2. und 3. Beispiele des Wegs, 4. Die Sohle nach ca. 4km. Der Boden war ziemlich trocken.
Mai-Britts erste Probewanderung, ca 5-6km. Wie man sieht, war der Boden auf dieser Tour etwas feuchter.

Wie für jedes neue Paar Schuhe, besonders Wanderschuhe, nahmen wir uns die Zeit, sie passend vorzubereiten und wenig einzulaufen. Wir ölten die Sohlen, trugen Wachs auf und polierten es ins Leder und suchten uns Routen mit passenden Wegen und los ging es. Jede/r von uns lief für sich ca. 10km mit den Schuhen und im Anschluss trafen wir uns für eine Generalprobe mit der gesamten Ausrüstung und gingen noch mal um die 5km zusammen durch den Wald über bequemen Feldweg und Waldboden. Es lief hervorragend. Alle Nähte hielten, die Schuhe wurden noch bequemer und die Motivation stieg. Und man sah nun auch endlich, dass die Schuhe nicht frisch aus dem Regal stammen, sondern auch benutzt werden. Philipp entschied sich nach den Probewanderungen aber dafür, seine Schuhe etwas anders zu schnüren, da ihm ein etwas engerer Schaft doch lieber ist vom Gefühl her. (Also daher bei den Photos nicht zu sehr wundern.)

Die Route

Wie schon in unserem Blogbeitrag über die Wegführung beschrieben, suchten wir uns den Weg danach aus, dass wir viel weichen Boden und wenig Asphalt und Schotter hatten. Bergetappen wichen wir auch nach Möglichkeit aus. Unter insgesamt 11km Asphalt und 11km Kies konnten wir die Planung jedoch nicht bringen.

Der ursprüngliche Plan, der dann “on the fly” ein paar Anpassungen bekam, bspw die Bergetappe von Tag 2 wurde abgeschwächt, indem wir einen Alternativweg an der Seite des Berges nahmen.

Los geht’s!

Die Wanderung ging also los. Als Ersatz für den Notfall hatten wir jeder ein paar andere Mittelalterschuhe dabei, die wir schon stark eingelaufen hatten und etliche Kilometer Erfahrungin ihnen. Einerseits schrieb uns unsere Packliste das vor, und andererseits: “man weiß ja nie”.

Wie unsere Wege genau verliefen an den drei Tagen und auch einen bildlichen Eindruck findet ihr in den einzelnen Blogeinträgen zu den Tagesetappen Hildesheim-Lamspringe, Lamspringe-Wiebrechtshausen und Wiebrechtshausen-Nikolausberg und als kleine Galerie beim Experteninterview zur Mobilität im Mittelalter.


Und nun zu dem, was euch wahrscheinlich am meisten interessiert: die verschiedenen Untergründe und unsere Erfahrungen damit:

  • Asphalt
    • Auf Asphalt, dem mit Abstand modernsten Untergrund, den wir antrafen, kam man zwar sehr effizient voran, aber mit deutlichen Einbußen. Er ist auch der härteste Boden, und jede Dämpfung muss über das Abrollen stattfinden. Tut man das nicht, spürt man das sehr schnell. Zudem spürt man jeden Kiesel, der auf diesem perfekten Untergrund liegt. Bisweilen kann Asphalt in Kombination mit Ledersohlen auch sehr glatt sein, und besonders bei Steigungen eine Gefahr darstellen. Bergauf ist das noch halbwegs ok, aber sobald man bergab bei jedem Schritt bremsen muss, ist ein Ausrutscher gefährlich. Manchmal ist es wie auf Eis.
      Hat der Schuh aber ausreichend Grip, bremst die Sohle bei jedem Schritt auf dem Punkt, was zu einer starken Bewegung des Fußes im Schuh führt. Blasengefahr! Jedes Gleiten der Sohle über den Boden ist zudem wie Schleifpapier und nutzt ab.
  • Betonplatte
    • Einige der Wirtschaftswege waren mit Betonplatten ausgelegt. Sie verhalten sich ähnlich wie Asphalt, aber sind rauer. Man rutscht nicht aus, aber der Schleifeffekt ist gefühlt höher.

Auf der Zielgeraden hatten wir Begleiter. Sie hatten modernes Schuhwerk und “frische Füße”, aber dennoch merkte man keinen großen Geschwindigkeitsunterschied.
  • Kies/Schotter
    • Was man heute mit am häufigsten antrifft außerhalb von Ortschaften sind Wege aus Kies oder Schotter. Sie sind im modernen Kontext schnell und einfach hergestellt, sind stabil und wasserdurchlässig. Ist man aber auf dünnen Ledersohlen unterwegs, spürt man schnell jeden einzelnen Stein. Mit der Zeit sorgt diese punktuelle Belastung auch schneller für eine Überreizung der Fußunterseite. Sie haben aber den Vorteil, dass der Untergrund ein bisschen beweglich ist, was die Bremsung bei jedem Schritt vom Gefühl her für den Schuh etwas weniger schleifend gestaltet, wenn gleichzeitig aber auch die Kanten für das Leder weniger schonend sind.
  • Pflaster
    • Altstädte und Bürgersteige sind heute oft gepflastert. Die üblichen Pflastersteine von Bürgersteigen verhalten sich ähnlich wie die Betonplatten, während die runden und glatten Pflastersteine der Altstädte viel freundlicher sind zu den Füßen. Zwar können sie glatt sein, aber die unregelmäßige Form ist, im Vergleich zu den vorgenannten Arten, Balsam für die Sohle, sowoh Schuh- als auch Fuß-! Bedingt durch die Form geht man viel vorsichtiger, passt besser auf den Tritt auf, rollt bewusster ab. Man sucht sich fast intuitiv die Steine und Winkel, die bequem sind. Man ist dadurch jedoch wieder langsamer.
Auch durch diesen Matsch mussten wir, aber die Schuhe blieben dicht!

  • Erdboden und Grasnarbe
    • Die angenehmsten Böden waren aber die naturbelassenen Untergründe: leicht verdichteter Erdboden, die Grasnarbe der Wiese oder des Wegrands, oder auch der leicht beblätterte Waldboden. Sie sind relativ weich und dämpfen beim Gehen mit, sie zeigen keinen größeren Abrieb an der Sohle, und je nach Feuchtigkeit passt sich der Boden sogar dem Fuß noch weiter an, manchmal kühlt es sogar bisschen durch die Sohle. Man ist zwar langsamer unterwegs, aber es schont Schuh, Fuß und Gelenke.
      Je nach Erdboden und Verdichtung muss man aber aufpassen, dass man nicht auf vereinzelte Steine tritt, da diese doch dann sehr weh tun können.

Exkurs: Laufen in Wendeschuhen

Wendeschuhe sind schon definitiv etwas besonderes. Die Schuhe sind unheimlich flexibel – immerhin bestehen sie nur aus dünnem Leder oben und etwas dickerem Leder unten, und sie haben keine Versteifungen oder krasse Formpressung wie moderne Schuhe. Die markantesten Unterschiede sind aber die fehlende Dämpfung und der fehlende Absatz. Das erfordert ein anderes Gehen, man muss sich dem Schuh anpassen.
[Wichtig! Im Folgenden wird ein Erfahrungswert berichtet. Wir sind keine Mediziner, keine Orthopäden oder sonstwelche Fachleute für das Thema Schuhe/Gehen. Für gesundheitliche Schäden übernehmen wir keine Haftung. Was im Folgenden Abschnitt steht, funktioniert für uns, heißt aber nicht, dass es für jeden so ist, und auch nicht, dass es die gesündeste Methode ist.]
Immer wieder liest man von einem inteniven Ballengang, der in mittelalterlichen Schuhwerk zwingend notwendig wäre. Manche sagen, dass man sogar bei jedem Schritt erst mit dem Ballen “tasten” würde, um dann erst danach mit der Ferse aufzusetzen. Durch unsere mehrtägige Wanderung versprach ich, Philipp, mir neben vielen anderen Sachen, in diese Debatte einen besseren Einblick zu bekommen.
Zu meinen Füßen: als Kind hatte ich Einlagen wegen Plattfüßen, aber seitdem sind meine Füße ziemlich unproblematisch. Ich habe keine Probleme, sie sehen für mein Laienauge gut aus, aber vielleicht findet ein Experte trotzdem 1-2 Dinge, die nicht aus dem Lehrbuch sind. Seit bestimmt 15 Jahren trage ich auch regelmäßig die allseits beliebten Chucks, also Schuhe ohne stark ausgeprägtes Fußbett und ohne Absatz, aber mit weichem, dämpfenden Innenleben. Ich habe mehrere Varianten zu gehen ausprobiert auf dem Weg, und ich muss sagen, dass der Fersengang auf ebener Strecke durchgängig der bequemste und effektivste Gang war. Der größte Unterschied zum “normalen Alltag” war, dass ich zum einen etwas stärker abgerollt habe, und – gegen Ende der Etappen, wenn die Füße schmerzten – ich relativ plattfüßig auftrat, anstatt ordentlich abzurollen. Bei Strecken bergauf ändert sich das natürlich je nach Steigung immer weiter zum Ballengang, aber das ist auch in modernem Schuhwerk so. Ein “Problem” stellten Etappen dar, die bergab gingen. Ohne ein etwas besser den Fuß im Schuh fixierendes Fußbett ist die Gefahr des Rutschens im Schuh größer – so jedenfalls mein Gefühl – und ich glaube, dass auch genau daher meine Blasen kamen. Bergab geht man sehr stark auf den Ballen. Hier war der Pilgerstab eine sinnvolle Ergänzung, weil man sich mit ihm nach vorne abstützen kann und die Gewichtsbelastung damit abfängt, weniger im Schuh rutscht und den Ballen weniger belastet. Zum Pilgerstab und seinen Einsatzmöglichkeiten gibt es demnächst einen gesonderten Artikel, in dem alles gebündelt zu finden sein wird.
Auf einer kurzen Strecke probierte ich auch schnelleres Laufen aus. Hier war der größte Unterschied. Während moderne Joggingschuhe noch bis zu einer recht hohen Geschwindigkeit den Schock an der Ferse ausreichend abdämpfen und man lange beim abrollenden Fersengang bleiben kann, ist das bei Wendeschuhen unmöglich und man muss viel früher dazu übergehen, nur auf den Ballen zu laufen. Man verwendet also früh den federnden Lauf, den man u.a. von Sprintern kennt, bei denen man nur mit Ballen und Zehen aufkommt. Wenn man das bedenkt und darauf achtet, nicht auf einzelne spitze Steine zu treten, ist hier auch gut was möglich. Einen vergleichenden Test werde ich vielleicht auch noch mal machen.
Aber alles in allem eine Einschränkung oder eine starke Anpassung des Gehens habe ich nicht bemerkt oder für notwendig empfunden. Auf modernen Untergründen sind Wendeschuhe bisweilen unbequem, aber auf natürlichem Boden sind sie mit die bequemsten Schuhe, die ich kenne – vielleicht weil sie nur eine dünne Schutzschicht unter dem Fuß sind und kein groß spürbarer Schuh. Sie hatten auch keinen zu großen Einfluss auf meine Kondition. Meine Füße waren insgesamt nur von den durchschnittlich 45.000 Schritt entsprechend belastet. Das einzige Problem stellten die Blasen dar. Bei der ganzen Thematik bin ich offen für einen Austausch und würde mich sogar darüber freuen!

Unsere Erfahrung und die Abnutzung

Zeigt her eure Füße, zeigt her eure Schuh’ 😉
Mai-Britt während der Pause unserer gemeinsamen Probewanderung mit der kompletten Ausstattung.

So viel der Worte über den Weg, die Böden, die Schmerzen und auch die Theorie des Laufens. Dann wird es jetzt auch Zeit, mehr zu den Schuhen zu sagen.
Wie gesagt handelt es sich bei unseren Schuhen, die wir die gesamte Strecke trugen, um wendegenähte Schuhe. Sie bestehen (so fern ich es richtig messe) aus 2mm Oberleder und 6mm Sohlenleder und sind auf Maß gefertigt. Die Sohle ist etwas dicker als von den Mittelalterschuhen, die ich sonst bisher in der Hand hatte, aber trotzdem nicht “klobiger” oder unflexibler/unbequemer. Besonders auf einer Wanderung gibt einem das sogar noch etwas mehr Sicherheit, zumindest im Mindset. Wie viele Kilometer man damit mehr schafft, können wir bisher nicht sagen, da sie noch 1A in Schuss sind. Auch der Keder hat sogar eine weitere Funktion unter Beweis gestellt: Tritt man mit der Ferse auf, kommen nur Sohle und Keder auf den Boden auf, nicht das Oberleder. Rollt man mit den Zehen ab, rollt man über Sohle und Keder. Das Oberleder wird vor Abrieb geschützt.

“gerade war der Weg noch da… wo kommt der Bach her?”

Vor der Wanderung haben wir die Sohlen ausgiebig geölt und das Oberleder gründlich gewachst, besonders an den Nähten. Wir wussten nicht, wie das Wetter werden wird und wie die Strecke beschaffen sein wird. Und das war gut so, denn wir hatten zwar keinen Regen, aber manche Böden waren relativ schlammig. Die Schuhe hielten aber dicht. Ein wirklicher Belastungstest für Feuchtigkeit war das aber trotzdem nicht, da es sich auf “sehr weicher Boden, in dem man spürbar einsinkt” begrenzte. Vielleicht kommt das aber ja bei einer der nächsten Gewandwanderungen von Scotelingo. Bei den Wanderungen hat es bisher hin und wieder geregnet. Es bleibt also spannend!

1. Auf der Probewanderung; 2. nach 100km; 3. nach 100km und Putzen und Pflegen

Wie haben sich die Schuhe nach den 100km so verändert? Wie man auf dem Bild rechts sieht, hat sich eigentlich nicht viel getan. Die farbliche Abweichung beruht hauptsächlich auf dem unterschiedlichen Licht, aber sie haben durch die Feuchtigkeit vom Boden und Schweiß und das jetzt mehrfache Wachsen ein wenig nachgedunkelt, so jedefalls mein persönliches Gefühl. Sie sind weicher geworden und dadurch auch bequemer. Sie sind, wenn man es überspitzt beschreiben will, jetzt eingelaufen und bereit für mehr.

links direkt nach der Wanderung und nur den Dreck abgeklopft, rechts gereinigt und ganz frisch geölt

Die größte Entwicklung hat die Sohle mitgemacht. Entgegen der Vermutung und dem Klischee aber nicht im Sinn von “abgenutzt” und “kaputt”, sondern vielmehr in er Formgebung. Die Sohle – zumindest bei Philipp – hat sich sehr stark an die Fußform angepasst. War sie vorher noch recht gerade, ist sie jetzt in alle Richtungen gebogen. An der Ferse und an den Zehen geht das Leder jetzt leicht nach oben, genau so auch an den Seiten. Am auffälligsten ist die Biegung der Sohle entlang des Längsgewölbes. Während das Leder die deutlichste Abnutzung an der Ferse, am Ballen und an der großen Zehe hat, ist der Außenspann kaum abgenutzt und am Innenspann ist das Leder sogar so gut wie unberührt. Wer regelmäßig auf Stefans Facebookseite vorbeischaut, sieht hin und wieder Photos von Originalsohlen, die eine ähnliche Schwerpunktsetzung in der Abnutzung aufweisen.

Und so sehen Philipps Schuhe jetzt aus, nachdem das Sohlenöl auch komplett eingezogen und getrocknet ist. Man erkennt sogar ein bisschen die geringere Belastung der Sohle zwischen Zehen und Ballen. Da man stellenweise noch die Poren der Haut erkennen kann – zumindest bilde ich es mir ein – würde ich behaupten, dass die Abnutzung sehr gering war, trotz geschätzt 30km Asphalt und 10km Schotter auf unserer 100km Tour. Da die Kanten sich nach oben gebogen haben entlang der Fußform, kann ich leider nicht zuverlässig mit dem mir zur Verfügung stehenden Werkzeug die verbleibende Lederdicke messen. Da aber nicht nur Abrieb, sondern auch Verdichtung auftreten dürfte, wäre der Wert auch nicht repräsentativ zur Abnutzung. Ich persönlich hatte dennoch eigentlich mit stärkerer Abnutzung gerechnet.

Die Abnutzung der Sohlenunterseite ist viel gleichmäßiger, und es gibt auch keine Biegung der Sohle entlang des Längsgewölbes.

Doch wieso wird die ganze Zeit betont, dass es sich um Philipps Schuhe handelt?
Aus einem ganz einfachen Grund: Wir haben zwar beide mit fast den gleichen mittelalterlichen Schuhen die selbe Strecke zurückgelegt, aber an Mai-Britts Schuhen sind die Abnutzungsspuren etwas anders, da sie moderne Einlagen in ihren Schuhen trug. Das war, da die Schuhe beim Maßnehmen schon so konzipiert wurden, kein Problem. Dies führt jedoch dazu, dass es eine Struktur im Schuh gibt, die wie ein Fußbett wirkt und die Beanspruchung der Sohle beeinflusst. Es ist weiterhin ein Belastungstest für Material und Verarbeitung, jedoch ein wenig anders und – so unsere Einschätzung – individueller auf den Schuh- und Einlagennutzer. Eine weiterer Unterschied zwischen Wendeschuhen mit und ohne Einlagen ist die Dämpfung, da die Einlage hier ebenfalls einen Einfluss hat. Da die Einlage auch an der Ferse etwas um diese herum nach oben geht, konnte Mai-Britt ein bisschen besser abrollen als Philipp. Der Fuß wird von der Einlage in eine Form gedrückt, die nicht der eigentlich natürlichen Form entspricht, und diese Belastung aus Kombination “Barfußschuh” und Einlage führte bei Mai-Britt irgendwann zu Schmerzen.

Bis unsere Pilgerschuhe aussehen wie auf den Altarbildern, werden wir noch etliche Kilometer mit ihnen zurücklegen können. Zumindest längere Strecken werden wir wahrscheinlich weiterhin notieren, damit wir eine in-etwa Zahl haben, sobald die Schuhe eines Tages zur Reparatur müssen. Das wird aber noch dauern…

Von Malern, Ostseestädten und einem Totentanz: Das Bild eines ‘Lebensgefühls’

Pünktlich zum Wochenende kommt hier eine Leseempfehlung:

Renate Krüger, Türme am Horizont. Ein Notke-Roman, 1982 (vermutlich nur noch antiquarisch zu bekommen, seit 2014 aber auch als E-Book verfügbar).

Diese Woche hat in England auch endlich der Sommer Einzug gehalten und daher habe ich gestern den ganzen Nachmittag im Freibad verbracht. Meine Beschäftigung: ein historischer Roman. Zugegeben, ich bin kein großer Fan von historischen Romanen, aber der hat mich doch in vielerlei Hinsicht beeindruckt. Ich habe seit langem kein (nicht-wissenschaftliches) Buch mehr an einem Tag durchgelesen!

Der Roman spielt entlang der Ostseeküste im 15. Jahrhundert. Protagonist ist der fiktive Henning Schnytker aus Wismar, Malergeselle, der, gerade von seinen Wanderjahren heimgekehrt, feststellen muss, dass sein Vater verstorben ist. Sein Ziel ist nun, möglichst schnell in die Zunft aufgenommen zu werden, um die Werkstatt und den Meistertitel des Vaters übernehmen zu können. Sein Plan wird allerdings durchkreuzt, als kurz darauf Bernt Notke – dieser ist tatsächlich eine historische Person, nämlich der wohl berühmteste Maler des Hanseraums (um 1435-1509) – in seiner Werkstatt auftaucht und ihn als Geselle mit nach Lübeck nehmen möchte. Gut ein halbes Menschenleben später findet Henning Schnytker sich in einem Verlies in Reval wieder und berichtet dort von seinen Erlebnissen mit Notke, seinen Reisen durch viele Hansestädte entlang der Ostseeküste und von dem Totentanz, der ihn noch immer verfolgt.

Ja, es ist ein Lübeck-Buch, und ja, man muss sich fragen, ob jemand, der zu Lübeck im späten 15. Jahrhundert promoviert, nicht irgendwann die Nase voll hat und sich auch noch in seiner Freizeit mit dem Thema befassen muss. Da habt ihr vermutlich Recht!

Doch dieses Buch war es wirklich wert. Krüger (+ 2016), die selbst studierte Kunsthistorikerin und Archäologin war und in Schwerin (also nicht allzu weit vom Setting entfernt) lebte, bietet in ihrem Roman eine historisch sehr akkurat recherchierte Geschichte. Und glaubt mir, es mag etwas heißen, wenn ich das sage, denn ich kann sehr ungnädig sein, wenn schlampig recherchiert und mit Klischees und Halbwahrheiten um sich geworfen wird (und ich glaube, ich bin mittlerweile tief genug im Thema drin, um das ganz gut beurteilen zu können 😉). Geschickt lässt sie zahlreiche Kunstwerke Notkes und anderer spätmittelalterlicher Meister in die Erzählung einfließen, beleuchtet das Verhältnis von Notke und Hermen Rode, und zeigt erstaunliche Ortskenntnis der Städte, die sie beschreibt. Mein persönliches Highlight: Es taucht sogar einer meiner Buchdrucker auf, Steffen Arndes, der bei Notke die Holzschnitte für seine berühmte Lübecker Bibel in Auftrag gibt (auch wenn der aktuelle Forschungsstand das mittlerweile anzweifelt)… Dies sind allerdings Fakten, die sich jeder mit ein bis zwei Büchern über Notke hätte anlesen können.

Besonders beeindruckt hat mich hingegen das Hintergrundwissen zu den kulturhistorischen und mentalitätshistorischen Voraussetzungen der Zeit. Die Autorin zeichnet mit dem jungen Henning Schnytker einen Charakter, der begleitet ist von einer Angst vor dem Tod und um das eigene Seelenheil, die bezeichnend gewesen sein muss für das ausgehende 15. Jahrhundert.[1] Der ältere Henning Schnytker, immer noch verfolgt von dieser Angst, sieht sich gefangen in einer Welt des Umschwungs, in der er selbst nicht recht weiß, wo sein Platz ist: Die Hanse zerbricht, alte Werte gehen verloren, die Renaissance läuft dem spätgotischen Stil den Rang ab und zerstört die Lebensgrundlage des Malers, und der Katholizismus und seine Heiligen werden vom gerade aufgekommenen Neuen Glauben Luthers verdrängt, sodass Schnytker selbst nicht mehr weiß, woran er glauben soll, darf und kann. Selten hat ein historischer Roman für mich so gut das Lebensgefühl einer Generation eingefangen, einer Generation am Umbruch zwischen Mittelalter und Neuzeit.

Obwohl die Handlung des Romans in der zweiten Hälfte stark abbaut, und dort einige krause Stellen auftauchen, bei denen ich nicht sicher war, in welche Richtung die Autorin ihren Leser führen wollte, gibt es gerade aus den oben genannten Gründen von mir eine klare Leseempfehlung! Und zwar nicht nur für Lübeck-Fans 😉


[1] Ich lege hier mal diesen Band ans Herz: GROSSE, Sven: Heilsungewißheit und Scrupulositas im späten Mittelalter. Studien zu Johannes Gerson und Gattungen der Frömmigkeitstheologie seiner Zeit. Zugl.: Univ. Erlangen-Nürnberg, Diss., Tübingen 1994 (Beiträge zur historischen Theologie 85). Allgemein dazu auch zahlreiche Beiträge von Christoph Burger und Berndt Hamm.

Review: Handbook for Men’s Clothing of the Late 15th Century – Da isser! Ein Zipfel Norden!

Anna Malmborg/Willhelm Schütz, A Handbook for Men’s Clothing of the Late 15th Century, Furulund 2018 (Historical Clothing from the Inside out). [aus Schweden bestellt, 175kr + Versand, also um die 23€]

Zeitgleich mit “A Handbook for Women’s Clothing of the late 15th century”, welches bereits von uns rezensiert wurde, erschien auch in derselben Reihe und auch vom gleichen Autorenpaar „A Handbook for Men’s Clothing of the late 15th century“. Die Autoren sind zwei, die Bücher sind zwei, wir sind zwei. Passt! Also wie versprochen, gibt es von uns auch zum zweiten Buch ein Review.

Wie schon in der Rezension zum Band über die Frauenkleidung beschrieben, genießt das 15. Jahrhundert, und besonders die zweite Hälfte, in der Living History Szene eine sehr große und wachsende Beliebtheit. Gründe hierfür liegen wahrscheinlich nicht zuletzt in der guten Quellenlage: wir haben bspw. verstärkt Textquellen überliefert, die uns Aufschluss geben zu der Materialität, Anleitungen für Nestelbänder, Testamente aus der bürgerlichen Schicht etc., und auch die Bilder werden immer detaillierter und naturalistischer, und auch die erhaltenen Originale sind relativ zahlreich und recht weit gefächert, so gibt sogar aus Lengberg in Österreich Funde von Unterwäsche aus dem 15. Jahrhundert! Österreich… genau das passende Stichwort: Süden! Der Norden, also Norddeutschland und Skandinavien, wird sowohl in der Forschung als auch in der Living History Szene weniger stark behandelt.

Der Klappentext verspricht, dass dieses Werk ein „tool for understanding the clothes, materials and tailoring of Northern Europe” sei und nennt sich ein „in-depth volume“. Es möchte also ebenfalls wie sein Schwesternwerk genau die schon genannte Lücke schließen.

Die Aufmachung des Buches entspricht der des Bandes über die Frauenkleidung: auf 48 reich bebilderten Seiten in Form eines Softcover Buches gibt es einen Abriss der Männerkleidung für das späte 15. Jahrhundert für Nordeuropa.

Der erste Abschnitt („The Period“, S. 6–15) widmet sich ebenfalls dem geschichtlichen Kontext, den Farbe, den Stoffen und den Nähtechniken, und es wird – was ich für besonders wichtig erachte – auf (leider nur, aber immerhin) einer Seite auf ein zeitgenössisches Ästhetikgefühl hin sensibilisiert, welches sich in mehreren Kleidungsstücken wiederfinden lassen soll und deren Look beherrscht. Ebenfalls wird darauf eingegangen, dass es drei grundlegende Modebewegungen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts gab: Burgundisch, Italienisch und Deutsch. Die Unterschiede werden nicht beschrieben.
Der zweite Abschnitt („A Wardrobe“, S. 18–39) geht ebenfalls von der Unterwäsche in jeder Wäschelage anhand von ein 1–3 Beispielen bis nach außen zum Hut und Umhang und den Schuhen. Die Beispiele sind meist durch die Abbildungen oder im Text beschriebene Merkmale in, ich nenne sie mal „Economy“, „Business“ und „First Class“ unterteilt, und ergeben somit einen gewissen Variantenreichtum. Jedes Kleidungsstück wird über in der Regel zwei zeitgenössische Abbildungen „belegt“ und im Anschluss modern nachgezeichnet dargestellt – einmal an der schon aus dem Band zur Frauenkleidung bekannten „Anziehpuppe“ und einmal als „Idee eines Schnittmusters“.
Der dritte Abschnitt („Accessories“, S. 40–45) behandelt in aller Kürze und nur als ganz grober Überblick die Nestelbänder, Gürtel, Taschen, Schmuck und Frisuren.
Das Ende des Buches, wie sollte es auch anders sein, machen das Abbildungsverzeichnis und Literaturhinweise.

Und genau hier setzt auch schon meine Kritik an: Es gibt kein klassisches Literaturverzeichnis, keine Fußnoten, keinen Hinweis, wo die Informationen, die im Text stehen und nicht aus den Bildquellen hervorgehen („The shirt served to protect the finer woolen garment, and could be changed and washed more frequently“, S.22, oder „Most garments were sewn with linen thread“, S. 14) herkommen. Ebenfalls wird häufig über Informationen gesprochen, die einen Einblick in eine Großzahl an Bildern verlangt, aber nur mit einem einzigen gezeigten Bild belegt wird, wenn überhaupt! („Despite a few depictions of men wearing blue or black braies, the most common material by far was bleached linen.”, S. 20, und auf der Doppelseite werden drei Abbildungen von Unterhosen gezeigt, alle weiß.) Dieses „Belegen nur durch Bild“ zieht sich durch das gesamte Buch – und was sehr gravierend ist in meinen Augen: Originale werden nicht hinzugezogen! Jedes Kleidungsstück wird über meist zwei Bilder belegt, die aber ohne Kontext gezeigt werden, und ob der Beleg gerade durch ein süddeutsches Bild stattfindet (neben den 19 Gemäldebelegen aus dem Norden lassen sich auch 10 süddeutsche im Abbildungsverzeichnis ausmachen) ist erst durch einen Blick ins Verzeichnis zu erkennen. So sind beide Abbildungen für den Umhang süddeutsch, obwohl es durchaus norddeutsche Abbildungen für genau solche hüft- bis oberschenkellange Halbkreisumhänge gibt. Es ist wahrscheinlich dem angestrebten Seitenumfang des Buchs zu verschulden, dass jegliche Hinweise, was überhaupt an der dargestellten Mode jetzt das Deutsche ist, fehlen, obwohl die deutsche Mode, wie eingangs auf S.8 in den Raum gestellt, im Kontrast zum Burgundischen und Italienischen stehen soll. Die Gemäldeabbildungen sind aber (bis auf zwei Unterhosen, ein Hut und eine Frisur, die alle vier italienisch sind) durchgehend deutsch oder niederländisch, entsprechen also dem vom Buch versprochenen. Wie auch im Band zur Frauenkleidung, besteht der Schmuck, der mittels Photos von Rekonstruktionen gezeigt wird, durchgehend aus Zinn, obwohl die Gemäldeabbildungen Gold zeigen und auch der Text als andere Materialien Bronze, Silber und Gold erwähnt. Der Begriff „turnshoe“ wird nur in der Einleitung erwähnt (S. 18) und es wird auf die Besonderheit des Wendeschuhs im Gegensatz zum sonst allgemein bekannten modernen Schuh auch auf der Doppelseite zu den Schuhen (S. 38f.) nicht eingegangen. Trippen aus Holz werden erwähnt, aber nicht gezeigt. Die im späten 15. Jahrhundert häufig anzutreffenden Schuhe mit einer Schnalle werden erwähnt, aber ebenfalls nicht gezeigt. Die Abbildungen der Schuhe beschränken sich nur auf zwei Photos von Rekonstruktionen und auf die modernen Schemazeichnungen von der „Anziehpuppe“. Die Ärmelkonstruktion über den Grande-Assiette-Schnitt findet weder im Bild noch im Text Erwähnung – ist aber aufgrund der verwendeten Abbildung auch nicht notwendig. Grande-Assiette war aber dennoch häufig in Gebrauch und würde meines Erachtens mit in ein solches Handbuch gehören. Richtige Schnittmuster werden aber eh nicht zugegeben, sondern nur grobe Konstruktionsvorschläge – die einem aber durchaus bei der Herstellung eines eigenen Schnittmusters weiterhelfen! Leider sind die Konstruktionsvorschläge ausgerechnet bei den fixierten Falten am Oberteil (Gown, S: 28–31) nicht hilfreich, jedenfalls für mich nicht verständlich.

Das Buch ist definitiv nicht für sich alleinstehend ausreichend zu betrachten und es bedarf mehr Recherche als das Buch allein präsentiert. Es gibt keinen Hinweis, wie die erwähnten Nestelbänder hergestellt werden (außer, dass sie per Finger-Loop gemacht werden können, zu dem es aber kein Schema dazugegeben gibt), es gibt keinen Hinweis, wie Gürtel aussehen können, abgesehen von einer einzigen gezeigten Zinn-Gürtelschnalle als Reproduktion, Knöpfe werden als Verschluss genannt, aber nie gezeigt oder näher beschrieben, außer dass es unter Umständen „fabric-covered buttons“ (S. 28) sein können – Zinn- und Messingknöpfe finden nicht einmal Erwähnung, genau wie die Knopflöcher oder die Konstruktion, wo die Knöpfe angebracht werden müssen).

Auf der Positivseite steht aber, dass es in Form dieses Buches eine Art gebündelte Übersicht, gewissermaßen eine Checkliste gibt, was zu einem kompletten (aber ziemlich generischen) Outfit gehört. Es wird kurz u.a. auf die Abhängigkeit der Art der Naht von Material und Beanspruchung eingegangen, es wird der Wechsel der Nahtform bei den Hosen erwähnt, es wird betont, dass Material und Schnitt immer vom Zweck und Vermögen des Trägers abhängig ist, etc., man bekommt eine relativ umfassende Hinweisansammlung, woraus ein („norddeutsches“) Outfit besteht und wie es aussehen kann.

Für Fortgeschrittene, die die Besonderheiten des Nordens kennenlernen wollen, ist das Buch definitiv nicht geeignet, und als „ein Buch verrät mir alles, was ich für den Anfang brauche“ leider auch nicht. Wer aber eine Zusammenstellung eines Kits haben möchte in der vieles direkt vor einem auf Papier liegt, ohne dass man sich über unzählige Internetquellen sich Informationen zusammenklamüsern muss, und bereit ist, weitere Recherchearbeit zu ergänzen, findet in diesem Buch einen relativ guten Begleiter, auf dem man weitere Arbeit aufbauen kann. Ich persönlich hätte mir ein solches Buch an meinem Anfang gewünscht, welches ich als Orientierungshilfe oder Checkliste nutzen hätte können. Aber mehr als das ist es dann leider auch nicht.

/Philipp

Review: Handbook for Women’s Clothing Late 15th Century… in Nordeuropa?

Anna Malmborg/Willhelm Schütz, A Handbook for Women’s Clothing of the Late 15th Century, Furulund 2018 (Historical Clothing from the Inside out, 1). [17,99 GBP über Amazon.co.uk – auch über den Verlag direkt zu erwerben]

Das späte 15. Jahrhundert genießt seit einigen Jahren eine herausragende Popularität in der Living History-Szene, und das durch ganz Europa. Ein Grund dafür mag der Quellenreichtum sein und die seit dem Ende des Mittelalters immer detaillierter und naturalistischer werdenden Bildbelege, die den Zugang zu diesen letzten Jahrzehnten des Mittelalters erleichtern. Was aber für Italien, Frankreich und den Süden des Heiligen Römischen Reiches gilt, trifft noch lange nicht auf alle Gegenden Europas zu: gerade die „Peripherie“, darunter Skandinavien und das heutige Norddeutschland, hängt sowohl mit Bildquellen als auch der modernen Erforschung noch weit hinterher. Ein Problem, das wir ‚Norddeutsche‘ sehr gut kennen. Das macht sich auch in der Living History-Szene bemerkbar.

Dem möchte das Buch ‚A Handbook for Women’s Clothing of the late 15th Century” Abhilfe schaffen. Auf 40 reich illustrierten Textseiten (und damit vielleicht doch eher ein Heft?) widmet es sich der gesamten weiblichen Garderobe in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, von der Unterwäsche bis zur Haube. Der Fokus liegt dabei, so die Einleitung, auf Skandinavien und dem nordeuropäischen, sprich: Hanse-Raum (S. 5). Das macht das Werk auch für uns aus dem Norden so interessant. Die beiden Autoren stammen selbst aus dem Bereich des Living History und berufen sich auf jahrelange Erfahrung. Anna Malmborg kann darüber hinaus einen Bachelorabschluss in Geschichte und Archäologie vorweisen, Willhelm Schütz ist gelernter Waffenschmied (S. 48). Das Heft ist hochwertig gestaltet mit ansprechendem Softcover-Einband, Hochglanzseiten und zahlreichen Illustrationen und zeitgenössischen Bildquellen.

Das Buch teilt sich neben dem kurzen Vorwort in drei Teile: The Period, A Wardrobe, Accessories. The Period ist ein kursorischer Überblick über das Tagesgeschehen des ausgehenden Mittelalters – politische Situation, soziale Umbrüche, Kriege, auch das mit Schwerpunkt Skandinavien –, gefolgt von jeweils zweiseitigen Einführungen in das spätmittelalterliche Schönheits- und Kleidungsideal, Kleidungsfarben und Färbemittel, Gewebe und Nähtechniken. Zwei Seiten erscheint wenig, zumal sich der Text den Platz auch noch mit den zahlreichen Abbildungen teilen muss, reicht aber hier vollkommen aus, um eine Grundlage für das erste eigene Nähprojekt zu schaffen. Das Kapitel zum historischen Kontext scheint neben diesen Basics der Kostüm- und Kleidungskunde ein bisschen aus dem Rahmen zu fallen, ist dafür aber das einzige, das wirklich zum Übertitel ‚The Period‘ passt. Dieser ‚Makel‘ in der Überschriftenwahl sei aber verziehen.

Der nächste Teil, A Wardrobe, widmet sich dann der Garderobe der spätmittelalterlichen Frau ‚from the Inside out‘. Beginnend mit dem Unterkleid, arbeiten wir uns zu Kopfbedeckung und Schuhen durch. Jeder Schicht wird eine ‚Standardversion’ des jeweiligen Kleidungsstücks zugeordnet; zahlreiche Hinweise auf Varianten sowie die Infos, die man im ersten Teil des Buches erhalten hat, helfen aber, das Kleidungsstück an den eigenen sozialen Stand und Zweck der Darstellung anzupassen. Auch hier sind zwei Seiten pro Kleidungsstück vorgesehen. Die Erklärungen sind einfach gehalten, sodass man leicht einen Eindruck vom Aussehen der Kleidungsstücke bekommt. Unterstützt wird das durch Bildquellen und eine gezeichnete ‚Anziehpuppe‘, die uns Modell steht und schrittweise von Seite zu Seite eine Kleidungsschicht hinzubekommt. Aufnahmen der eigenen Rekonstruktionen (‚am lebenden Objekt‘) und Schemazeichnungen von Kleidungsschnitten verdeutlichen die Infos aus dem Text und können auch für einen ersten Zugriff für Unerfahrene dienen, die sich erstmals selbst an Kleidungs(re)konstruktion versuchen wollen. Schnittmuster hingegen gibt es keine. Verwirrend und wenig hilfreich wird es, wenn der Grande-Assiette-Schnitt zwar im Text kurz angerissen wird, es aber an bildlicher Unterstützung fehlt, um sich diesen doch recht komplexen Ärmelschnitt vorstellen zu können. Die Anleitung zur Wicklung eines Kopftuchs mag gerade für Anfänger recht hilfreich sein. Was mir persönlich neu ist – aber da lasse ich mich gerne eines besseren belehren – ist, dass man regulär zwei Unterkleider getragen haben soll: ein ärmelloses und ein langärmeliges.

Der letzte Teil, Accessories, behandelt auf insgesamt sechs Seiten Gürtel, Beutel, Schmuck und Frisuren, ebenfalls wieder recht kursorisch. Hier finden sich mehr Bilder von Rekonstruktionen. Der gezeigte Schmuck und die Gürtel sind aber recht einfach gehalten; es überwiegt deutlich Zinn. Den Abschluss bilden ein kurzes Abbildungsverzeichnis und einige Literaturtipps für weitere Recherchen.

Dem Heft fehlen, abgesehen von den reichen Bildbelegen, jedwede Quellennachweise, obwohl hin und wieder auf entsprechenden ‚evidence‘ rekurriert wird. Die Bildbelege jedoch erfüllen leider absolut nicht den Anspruch, den das Heft eingangs an sich selbst geäußert hat. Hieß es in der Einleitung, man wolle sich auf Skandinavien konzentrieren und das mit Bildbelegen aus dem eng verwandten norddeutschen Raum unterstützen (S. 5), so fällt bald auf, dass fast ausschließlich alle Bildbelege süddeutschen Abbildungen entstammen. Das wird leider noch nicht einmal auf den ersten Blick sichtbar, da die Nachweise nicht bei den Abbildungen stehen, sondern im Anhang beigegeben wurden. Lediglich einmal wird explizit auf eine skandinavische Darstellung verwiesen, das Portrait Magdalenas von Schweden, ohne dass das Portrait aber selbst abgebildet würde (S. 33). Auf diesem Bild soll sie angeblich eine Schaube tragen; abgesehen davon, dass das Bild recht undeutlich ist, so handelt es sich (meinen Recherchen zufolge, vgl. auch den Blogpost zur Hoyke) zumindest für den norddeutschen Raum um ein doch eher ungewöhnliches Kleidungsstück. Auch Datierungen fehlen an den Bildbelegen leider. Zwar stammen alle Abbildungen aus dem späten 15. Jahrhundert, so ja auch der Buchtitel, doch ist die Mischung hier recht bunt, von spätgotischen bis Frührenaissance-Formen, die eigentlich nicht unkommentiert nebeneinander stehen sollten. Aus quellenkritischer Sicht schwierig sind die Abbildungen zu Frisuren am Schluss, zeigen sie doch Abbildungen Mariens und der weisen und törichten Jungfrauen, die keinesfalls repräsentativ für spätmittelalterliche Haartracht sein sollten.

Fazit: Das Buch gibt eine gute Einführung in die spätmittelalterliche Mode und kombiniert geschickt und platzsparend die nötigen Grundlagen der Kostümkunde mit einer Tour d’Horizon durch den weiblichen Kleiderschrank. Pluspunkte gibt es für den historischen Kontext am Beginn und für die ‚Anziehpuppe‘ mit den Schemazeichnungen der Schnitte. Für den Anfänger ist das Buch mit Sicherheit eine gute Einstiegshilfe – eine weiterführende Recherche ersetzt es aber keinesfalls!

Leider nicht geeignet ist das Buch, wenn man eine profunde Einführung in die nordeuropäischen Charakteristika der Kleidung sucht. Ich als Living Historian (und darüber hinaus auch Historikerin und Mediävistin) mit Schwerpunkt im norddeutschen und Hanse-Raum kenne das Quellenproblem sehr gut und ich weiß, dass wir oftmals nicht ohne den so viel besser illustrierten und erforschten Süden auskommen, wenn wir überhaupt was am Leib tragen wollen. Aber: Das heißt nicht, dass es keine Quellen gäbe; sie sind nur leider sehr viel weniger erschlossen und brauchen mehr Eigeninitiative in der Recherche. Wer also (so wie ich) darauf gehofft hat, dass das Buch einen Beitrag dazu leistet, die kleinen, aber durchaus feinen Unterschiede der nordeuopäischen Mode gegenüber dem Süden herauszuarbeiten, der wird hierin leider enttäuscht werden.

/Mai-Britt